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Aus den Papieren eines Wärters

Aus den Papieren eines Wärters

Titel: Aus den Papieren eines Wärters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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unten hastenden Schritte. Die Gruppen lösten sich, und es begegneten ihm nun schon Einzelne, die allein hinunterstiegen, in Felle und Häute gekleidet. So zog die Menschheit an ihm vorbei, hinab in die Tiefe. Es kamen die letzten. Dunkle Horden, nackt und zusammengedrängt wie Tiere. Oft traf es sich, daß er lange allein war, ohne jemand zu sehen. Wenn er jedoch unbeweglich stand und in die Nacht hinaufhorchte, hörte er immer noch von oben Tritte näher kommen. Auch zogen viele an ihm vorbei, die er nicht sehen konnte, denn die Treppe war ohne Grenze auch in der Breite, was ihm erst jetzt deutlich bewußt wurde, und oft dachte er, daß irgendwo in der Unendlichkeit des Raumes, auf gleicher Höhe wie er, ein Mensch hinaufsteigen müsse, sein Doppel-gänger, wie er den Blick auf die Stufen der Treppe gerichtet.
    Die Nacht lag als ein Rad um ihn, so daß er jene, die noch hinunterstiegen, erst sah, wenn sie dicht vor ihm waren, mit riesenhaften Köpfen, in denen die Augen als weiße Steine lagen und deren niedrige Stirnen wie Fäuste vorsprangen, tierähnliche Wesen, planlos zerstreut in der Finsternis der ersten Zeiten. Dann verschwanden auch sie. Er stieg hinauf, ohne daß er jemanden traf, der ihm von oben entgegengekom-men wäre, und wenn er stehen blieb, was nun öfters geschah, hörte er keine Schritte sich nähern. Nur von unten drang fern der Widerhall jener, die an ihm vorbeigezogen waren, doch versank nach einiger Zeit alles in der unnennbaren Ferne des Abgrunds. Er stand im Leeren. Er taumelte. Doch hörte er in diesem Augenblick, wie von oben her Schritte in einer Ge-schwindigkeit näher kamen, die immer größer wurde, wie die eines fallenden Steines. Er hielt im Steigen inne und starrte nach oben, wo sich die Nacht zu einer undurchdringlichen, schweigenden Mauer verdichtete, aus der heraus nun die Schritte auf ihn zurasten. Da tauchte vor ihm der Mann auf, aus dem Rachen der Finsternis wie ein Pfeil geschleudert, die 56

    verkohlten Hände weit zum Himmel in einer Gebärde unendlichen Grauens erhoben. Er aber stand unbeweglich. Es schien, als müsse der Rasende mit ihm zusammenstoßen. Da schlug der Fremde, von der Tiefe hingerissen, mit dem Gesicht auf den Granit, drehte sich, um in der Nacht tief unter ihm zu verschwinden, indem er auf dem Rücken, den Kopf nach unten, blitzschnell über die Treppe in den Abgrund glitt. Nun war er allein. Er stieg weiter, mühsam, weil das Leere ihn verwirrte. Er dachte, daß es besser wäre, sich in völliger Finsternis zu bewegen, da die sonderbare Durchsichtigkeit der Nacht seine Bewegungen lahmte. Er war durch nichts in seinem Aufstieg behindert als durch sich selbst. Es war ihm, als ob er sich innerhalb einer ungeheuren, steinernen Tretmüh-le befände. Er bemühte sich, seine Gedanken auf etwas zu lenken. Er versuchte, seinen Leib zu beobachten und sich so an einen Gegenstand zu halten. Er beobachtete, wie sein Fuß beim Aufwärtssteigen unter dem vorgeschobenen Knie sichtbar wurde, um kurz in seinem Blickfeld zu bleiben, bis er von neuem unter dem Leib verschwand. Er kam sich selber seltsam vor und fremd wie ein Insekt, und seine Bewegungen schienen ihm die einer unwirklichen Maschine. Er wandte den Blick wieder von sich ab in die Nacht. Er schritt endlos hinauf durch den leeren Raum und durch die leere Zeit. Gedanken ängstig-ten ihn. Er dachte sich, daß unvermutet die Treppe aufhören könnte, so daß er senkrecht unter sich die roten Wolken erblicken müßte, die sich am Grunde der Tiefe sammeln. Diese Vorstellung war ihm eine unerträgliche Qual, auch wenn nichts auf eine solche Möglichkeit hinwies. Er war sich selbst ausgeliefert. Auch bedrückte ihn, daß er nichts Bestimmtes von seinem Aufstieg erhoffen konnte. Er glaubte zwar an ein Ende der Treppe, und daß er dorthin kommen müsse, woher alle Menschen kämen, doch verwirrten sich seine Gedanken, da er nicht begriff, was die Menschen gezwungen hatte, diesen schrecklichen Abstieg auf sich zu nehmen. Die Eintönigkeit 57

    der Treppe zerstörte seinen Geist, und die milchige Helle der Finsternis, die auf den Stufen lag, der nasse Granit und der immer gleiche Widerhall seiner Schritte umklammerten seine Seele. Die Plattformen verschwanden, die das Emporsteigen von Zeit zu Zeit unterbrochen und einige Abwechslung gebo-ten hatten, da sie nicht regelmäßig angelegt waren, so daß er die Stufen zwischen ihnen hatte zählen können: Gleichmäßig stieg er nun die Treppe hinan. Mehrere Male lief er auch eine

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