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Aus den Papieren eines Wärters

Aus den Papieren eines Wärters

Titel: Aus den Papieren eines Wärters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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der Stufen nach links und nach rechts entlang, oft stundenlang, ohne eine Abgrenzung zu finden. Einmal glaubte er ferne Schritte zu hören, doch waren sie so weit von ihm, daß sie verhallten. Er lief verzweifelt schräg die Treppe hinauf, laut schreiend, um den anzuhalten, der vielleicht irgendwo hinunterstieg. Er wollte ihn fragen, warum er dies tue und ihn bitten, mit ihm nach oben zu steigen, damit beide gerettet würden, doch hielt er bedeckt mit Schweiß und außer Atem inne. Er spürte die Kälte der Quader unter seinen Füßen und das Eis der Unendlichkeit an seiner Stirne. Er begann wieder zu steigen.
    Er sah mit gerecktem Hals vor sich hin und hielt den Oberkörper weit nach vorn gebeugt. Seine Arme bewegten sich ziellos, und seine Füße stolperten. Er stieg ungleichmäßig, und langsam wuchs beim Hinaufsteigen die Angst, die sich bei jedem Schritt verstärkte. Er fiel und richtete sich mühsam und blu-tend wieder auf, dann fiel er aufs neue. Lange blieb er liegen und preßte sein Gesicht an den feuchten Granit, der seine Kleider durchnäßte. Später kroch er herum wie ein Tier, ging dann wieder einige Stufen hinauf in das wachsende Entsetzen hinein. Die Einsamkeit war wie ein Stein, war so, wie es tote Sterne gibt, unermeßlich und ohne Licht in erbarmungsloser Dichte Atom an Atom gefügt. Das Leere klebte an ihm, er war eingesogen vom blutleeren Schlund des Nichts. Er stand still.
    Jeder weitere Schritt war sinnlos, war gleich wie sein Stillste-hen. Es gab nur einen Sinn mehr: Wieder hinab zu den Menschen, atemlos, ein fallender Leib, zwei aufgereckte Hände, 58

    zwei tote Augen, ein schreiender Mund, um eins zu werden mit dem Schicksal der Menschheit, die in der Hölle versank, umsprüht von den Schwefeldämpfen der brennenden Meere.
    Es war unmöglich, allein zu sein, nur sich selbst gegenüber, Auge in Auge mit sich selbst, ohne Distanz, ohne Welt, ohne Möglichkeit zu reden, zu beten, zu fluchen, zu schreien, denn alles, was er tat, verschluckte lautlos der Raum und zerrieb zu nichts die leere Zeit. In ihm war eine Schwerkraft, die ihn hinab zur Tiefe zwang. Noch widersetzte er sich. Zum letzten Mal. Dann öffnete sich ihm selbst der Abgrund der Welt. Er bedeckte seine Augen mit beiden Händen und stürzte hinab in die Tiefe, die ihre Arme öffnete, furchtbar in ihrer Majestät, von ungeheuren Opferbränden umkränzt, tönend wie eine eherne Glocke von der Verzweiflung der Menschen, und wie er in ihrem Leib versank, verhallte sein Schrei: Gnade, wo ist Gnade, ohne Antwort an ihrem Antlitz.
    »Du schreist«, sagte sie und rüttelte ihn. Er sah erwachend ihr Gesicht, das sich über das seine neigte. Ihre Augen waren gleichgültig. »Sie weiß, was ich im Sinn habe«, dachte er und erkannte erst jetzt, daß über ihm ein Kreuz hing, einsam und schwarz, mit einem Nagel in der Mitte an die Wand geschla-gen. Er erhob sich und kleidete sich an, hüllte sich in den Mantel. Er fror. Das Weib erhob sich ebenfalls. Er lehnte sich gegen die Wand. Die Kerze brannte immer noch.
    »Ich werde warten, bis sie erloschen ist«, dachte er und umklammerte die Waffe.
    »Sind deine Augen immer so leer?« fragte sie.
    »Ja«, antwortete er, »immer.«
    Dann schwiegen sie wieder. Er sah gleich der Frau nach der Flamme, die still brannte. Ihre Hände lagen wie abgetrennt auf dem Tisch. Die Flächen hielt sie ohne Ausdruck nach unten und ohne Bewegung, als hätte sie diese Hände auf dem Tisch vergessen, so daß sie sinnlose Gegenstände links und rechts der Kerze waren, über deren Schaft der Talg floß. Über allem 59

    schwebte ihr Gesicht, das versteinerte, eins wurde mit dem Schweigen des Raumes. Dann sah er die Kerze niedriger brennen. Die Flamme flackerte. Sie wurde kleiner und größer, und mit ihr wurde der Raum wie ein atmendes Wesen leben-dig. Auf dem Weibe tanzte der Schein. Die Flamme leuchtete noch einmal zwischen ihren Händen in hellem Strahl auf, um dann in sich zusammen zu fallen, sterbend in der Finsternis.
    Die Nacht des Todes war vollkommen geworden. Von seiner Vision noch immer betäubt, erwachte er nun zu einem klaren und sicheren Bewußtsein, wie er es nie in seinem Leben gekannt hatte. Eine glühende Freude war in ihm. Die Dumpf-heit seiner Seele wich, blind in der Dunkelheit des Zimmers sah er klar und scharf. Er trank die Stille dieser Stunde wie Wasser, das einem Verdurstenden gereicht wird, bereit, die Türflügel zu öffnen, die ihn vom Nichts trennten, von der grenzenlosen Einsamkeit des Raums,

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