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Aus den Papieren eines Wärters

Aus den Papieren eines Wärters

Titel: Aus den Papieren eines Wärters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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herauf wie eine rote Wolke brach, veränderte sich langsam das Bild. Hatte sich bis jetzt seinen Augen eine unbestimmte Masse dargebo-ten, die in der Finsternis versank, so daß nur die Nächsten deutlich sichtbar gewesen waren, traten nun gegen die Tiefe die Silhouetten der Menschen mit äußerster Schärfe hervor.
    Auch mußte sich der Schein anderen mitgeteilt haben, denn er 53

    nahm wahr, daß manchmal einer die Bewegung der Menge nicht mitmachte, sondern nach oben stieg, ohne gehindert zu werden. Immer deutlicher zeichnete sich ein riesiger Feuersee ab, in den sich die Masse ergoß. Er sah in der Tiefe glühende Gasbälle aufsteigen und Protuberanzen wie Feuerblumen aus dem Gischte flammender Lava auftauchen. Ein Schreien und Stöhnen drang herauf, und er sah verkrampfte Hände, die sich im Fluch zum Himmel reckten, der regungslos über allem hing, ohne Sonne und Mond, ein schwarzer Priestermantel, der eine brennende Wunde deckt. Doch erstarrte die Menge nicht, auch wenn sich die Zahl derer, die aufwärts stiegen, mehrte.
    Mit geschlossenen Augen beschleunigten die Menschen neben und über ihm ihren Schritt, rissen die unteren mit und tauchten hinab, dem anschwellenden Heulen derer entgegen, die von den Flammen schon angeleckt wurden. Da bemerkte er mit Entsetzen eine Gestalt nach oben stürzen, die den Strom der Menge, der ihr entgegentrieb, mit mächtigen Armen teilte. Wie der Mann lautlos an ihm vorbei nach oben eilte, glaubte er, verkohlte Kleider zu sehen und Hände und Füße, die mit Brandwunden bedeckt waren. Das Auftauchen und Verschwinden des Mannes erschütterte ihn. Er sah das Unsinnige seiner Lage und erkannte, daß er verloren war, wenn er nicht handelte. Er stand still und kehrte sich dann mit einem plötzlichen Entschluß um. Im ersten Augenblick glaubte er, von der ungeheuren Menschenmasse erschlagen zu werden, die sich vor ihm in das Unendliche des Himmels auftürmte, eine Pyramide von Köpfen, Leibern und Gliedern, aber dann stieg er aufwärts, eine Stufe, eine zweite und dann mehrere. Von oben kamen ihm die Menschen mit Gesichtern entgegen, in denen sich der Schein des Feuers wie Blut spiegelte, und einigemale war er im Begriff umzukehren, so schrecklich war der Anblick, doch stieg er immer höher. Manchmal sah er einen, der zusammenzuckte, wie er ihn erblickte, umkehrte und keuchend neben ihm die Treppe hinaufrannte, bis er sich 54

    mit einem gellenden Schrei zu drehen begann, um aufs neue den Weg in die Tiefe zu wählen. Von oben kamen ihm die Scharen immer dichter entgegen, und oft mußte er mit beiden Armen die Menge teilen, doch kam es ihm vor, als wäre der Widerschein des Feuers nicht mehr so stark auf den Gesichtern. Er stieg langsamer, und mit der Zeit lockerte sich die herabstürmende Masse der Menschen auf. Auch fiel es ihm auf, daß die Menschen nicht mehr gleich gekleidet waren wie er, ihre Gewänder waren altertümlicher als die seinen, und schon sah er einige mit Kleidern, die das Mittelalter getragen hatte. Er schien in der Zeit zurückzugehen, je höher er stieg.
    Als er sich später wandte, war vom feurigen See nur noch ein schwacher Schein undeutlich tief zu erblicken. Die Menschen wurden weniger zahlreich. Es flutete ihm nicht mehr ein zusammenhängender Strom entgegen. Auch schien es ihm, als kämen von oben solche an ihm vorbei, die er einmal hatte hinaufsteigen sehen, denn sie trugen Kleider wie er. Die ersten Gewänder des Altertums leuchteten auf, römische Togen und griechische Obergewänder. Es zeichneten sich deutlich Gruppen ab, zwischen denen die Abstände größer wurden. Waren zuerst die Abstände wie zufällige Lücken in einem ununterbrochenen Gebilde gewesen, so überblickte er nun die Gruppen vollkommen, die nach und nach zwanzig Menschen nicht überschritten. Er nahm wahr, daß die Menschen einer Gruppe zusammenzugehören schienen. Die Gewänder wurden seltsam.
    Oft sah er solche, die er nie geahnt hatte. Wie buntes Ge-schmeide versanken sie in der Tiefe. Er begann einzelne Menschen zu beobachten, doch hatte sich das Bild der Treppe verändert. Der ferne Schein war der vollkommenen Nacht gewichen, auch nahm die Dunkelheit nach oben zu. Er stieg weiter hinauf. Die Treppe war nun auf zehn Stufen als ein schwach erhellter Raum sichtbar, in den die Menschen still traten und aus dem sie gingen, wie aus dem Leeren geboren und wie ins Leere gestoßen. Die Klagetöne waren seit langem 55

    verschwunden, und sein Ohr vernahm nur den eintönigen Widerhall der nach

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