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Aus den Papieren eines Wärters

Aus den Papieren eines Wärters

Titel: Aus den Papieren eines Wärters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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sein mochte. Er wurde ein Mensch wie jedermann, ein Mensch mit einer Stellung, der heiratete, der Kinder hatte, ein Haus, ein Automobil, eine Geliebte, doch lächerlich alles, weil es ein Geheimnis umschloß, den vergeblichen Versuch, mit der flatternden Fahne des Todes ins Nichts aufzubrechen, das Herz voll Sehnsucht nach der großen Kälte. Was er auch tat, lief auf Betrug hinaus, auch wenn er nur sich selbst betrog, wie auch unser Gespräch ein Betrug war, ohne daß er es wußte. Wir waren durch die Vorstädte gegangen und an den Fluß hinunter, dann den Quai entlang, unter den hohen Bögen 62

    der Brücken hindurch. Mit fortschreitender Erzählung änderte sich sein Verhalten. Er ließ sich nicht mehr treiben, er lenkte, ohne es bewußt zu tun, unseren Gang durch die Sommernacht, bis wir in eine verlassene Fabrik eindrangen, in eine Ansamm-lung weißer Gebäude, mit Kaminen dazwischen und halb zerstörten Hochöfen, alles halb versunken in wild wucherndem Unkraut; nur der Platz, auf dem wir standen, schien makellos, die großen Steinplatten Fuge an Fuge. Mitten im Hof nahmen wir Abschied, es sei besser, meinte er, von einer flackernden Angst erfüllt, daß wir uns noch vor Anbruch des Morgens trennten, doch kehrte ich mich noch einmal um: da stand er mir mit erhobener Waffe gegenüber. Ich erkannte, daß ich in eine fürchterliche Falle gegangen war. Er hatte mir sein Verbrechen nur erzählt, um mich als den zu töten, der das Geheimnis seiner Verzweiflung kannte, und so hatte er sich zum zweiten Male zum Mord überlistet, denn gelang es ihm nicht, ein Mensch zu sein, so wollte er wenigstens ein Schakal sein, der in den Nächten über die Ebene schweift, ein Tier, das Blut trinkt. Dann aber hob er die Waffe von mir, indem sich seine Augen mit Tränen füllten, und wie er schoß, brach er zusammen, als möchte er eins werden mit der steinernen Fläche, auf die er fiel und deren Rinnen sich mit seinem Blut füllten.

    63

    Pilatus
    1946

    Denen aber draußen widerfährt alles durch Gleichnisse, auf daß sie mit sehenden Augen sehen und doch nicht erkennen, und mit hörenden Ohren hören und doch nicht verstehen

    Wie die schweren Eisentüren geöffnet wurden, die seinem Throne am anderen Ende des Saales gegenüberlagen, und wie sich ihm aus den offenen Riesenmäulern die Menge entgegen-goß, mühsam nur von den Legionären zurückgehalten, welche die Hände zu einer Kette geschlossen hatten und sich mit dem Rücken gegen die Rasenden stemmten, erkannte er, daß der Mensch, der ihm vom Pöbel wie ein Schild entgegengescho-ben wurde, niemand anders war als ein Gott; doch wagte er ihn nicht ein zweites Mal mit seinem Blick zu streifen, weil er sich fürchtete. Auch hoffte er Zeit zu gewinnen, indem er den Anblick des Gottes mied, um sich mit seiner schrecklichen Lage vertraut zu machen. Er war sich im klaren, daß er durch die Erscheinung des Gottes vor allen Menschen ausgezeichnet worden war, ohne aber die Bedrohung zu übersehen, die in einer solchen Auszeichnung liegen mußte. Er ließ daher seinen Blick über die Waffen der Legionäre gleiten, prüfte, wie er gewohnt war, die Sturmbänder, die ihnen hart unter dem Kinn lagen, den Zustand der Waffen, die Zuverlässigkeit der Bewegungen und die Festigkeit der Muskeln, um dann mit einem 64

    schrägen Blick nach der Menge zu sehen, die erstarrte und sich zu einer unbeweglichen Masse verdichtete, nun lautlos im Raume, an deren Spitze, von hundert Händen gierig umklammert, der Gott ruhig verharrte, den er jedoch noch immer anzusehen vermied. Er senkte vielmehr die Augen auf eine Rolle, die über seine gebreitet war und einen Erlaß des Kaisers enthielt. Er begann nachzudenken, was ihn verhindere, den Gott vor allem Volk zu ehren. Es wurde ihm der Augenblick deutlich, da ihn der Gott mit seinem Blick getroffen hatte. Er erinnerte sich, dessen Blick gesehen zu haben, als die Türe, durch die sie den Gott brachten, kaum geöffnet worden war, und daß er nur diese Augen gesehen hatte und nichts außerdem. Sie waren nicht anders gewesen als Menschenaugen, nicht mächtiger oder von solchem Licht, wie er an griechi-schen Götterbildern bewunderte. Auch lag nicht die Verachtung in ihnen, welche die Götter gegen die Menschen hegen, wenn sie auf Erden wandeln, ganze Geschlechter zu vernichten, doch auch nicht jene Auflehnung, die er in den Augen der Verbrecher glimmen sah, wenn sie vor ihn gebracht wurden, bei Rebellen wider das Reich oder bei Narren, die lachend starben. Es

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