Aus reiner Notwehr
Kate sich schon seit ihrer Schulzeit ausgemalt hatten, dass sie Schwestern werden würden, wenn Victoria und Leo eines Tages heirateten. “Aber apropos, worüber nörgelt und quengelt Leo denn?”
“Ach, über das Übliche.” Victorias Ton wurde abweisend. “Du weißt doch, wie er ist.”
Kate vernahm ein Rascheln und das verräterische Klicken eines Feuerzeugs, danach hörte sie den leisen Lufthauch, als Zigarettenqualm ausgestoßen wurde. “Rauchst du etwa wieder, Mutter?”
“Ich hab’s so gut wie aufgegeben.” Victoria brummte unwirsch. “Müssen wir unsere Zeit verschwenden und über so etwas reden, Kate? Du hast mit deiner Arbeit so viel zu tun, wir kommen kaum dazu, uns zu unterhalten. Also wenn du mich schon einmal anrufst, wäre es mir lieb, wenn wir uns nicht über Themen in die Haare kriegen würden, bei denen wir ohnehin nicht übereinstimmen. Wie über das Rauchen beispielsweise. Lieber Himmel, alle Welt macht sich sowieso verrückt genug damit!”
“Nicht ohne Grund, Mutter”, erwiderte Kate und schloss die Augen. In einer Hinsicht war sie mit ihrer Mutter einer Meinung: Sie wünschte, ihre Unterhaltungen würden sich einfacher gestalten, liebevoller, wärmer, nicht so belastet durch unterschwellige Gereiztheiten und andere emotionale Empfindlichkeiten, deren Gründe sie schon immer verblüfft und bedrückt hatten.
“Was genau hat Amber denn gesagt?”, wollte Victoria jetzt wissen.
“Nur, dass du schlecht ausgesehen hättest.” Zwischen ihren Augen hatte ein scharfer Schmerz eingesetzt. “Du würdest es mir doch sagen, wenn irgendetwas nicht in Ordnung wäre, nicht wahr, Mutter? Ich könnte bis New Orleans fliegen und dann innerhalb von ein paar Stunden in Bayou Blanc sein. Du brauchst es nur zu sagen.”
“Jetzt überreagierst du aber ganz schön, Kate. Ich finde, du solltest zunächst dein eigenes Leben in den Griff bekommen, und dann können wir über meines reden. Man sagt ja, eine Scheidung sei die Krise im Leben, die das schlimmste Trauma hinterlasse, und deine war schließlich erst vor sechs Monaten.”
Kate wandte sich um und registrierte hektische Betriebsamkeit am Eingang zur Notaufnahme, wodurch ihr der Rest der Standpauke entging, die ihre Mutter ihr hielt. Als zwei Rettungssanitäter den Patienten an ihr vorbeischoben, bedeutete Betsy Kate mit einer Geste, ihnen zu folgen.
“Kate? Kate!”
“Entschuldige, Mutter, aber es ist gerade jemand eingeliefert worden. Ich bin am nächsten dran, also wird man ihn wohl mir zuweisen. Was wolltest du sagen?”
“Du liebe Güte, Mädchen! Wie kannst du es in Betracht ziehen, mich zu besuchen, wenn es schon so schwierig ist, mit dir nur ein paar Minuten am Telefon zu sprechen?”
“Mutter, ich habe Dienst. Ich versuche schon seit Tagen, dich von zu Hause aus anzurufen, aber du bist ja nicht zu erreichen.”
“Kate, ich habe auch Angelegenheiten zu erledigen, muss auch mal irgendwohin fahren, genau wie du.”
“Warst du verreist?”
“Ach, mal hier, mal da. Man muss ja mal raus, weißt du?”
“Dr. Madison, bitte nach Eins. Dr. Madison!”
“Hörst du, das ist mein Aufruf, Mutter. Es tut mir leid, aber ich muss los. Ich rufe morgen Vormittag an. Wenn ich ein paar Stunden geschlafen habe, ja?”
“Wie steht’s mit deiner Beförderung?”
“Ist noch in der Schwebe. Nimm’s mir nicht übel, Mutter, ich muss wirklich …”
“Ach, mach doch, was du willst, Kate!” Ein Klicken in der Leitung, dann Stille. Kate schaute verdutzt auf den Hörer. Ihre Mutter hatte aufgelegt.
“Haben Sie den Aufruf nicht gehört, Dr. Madison?”
Kate legte den Hörer zurück und drehte sich um, um Jean Sharpe zu zeigen, dass sie verstanden hatte. “Danke, Jean”, sagte sie trocken.
Jean Sharpe hatte ihre Frage ganz offensichtlich sowohl als Spitze als auch als Tadel gemeint. Die Frau galt als ausgesprochene Pedantin, was die Abläufe im Krankenhaus betraf, und sie erwartete stets, dass man neu zugewiesene Ärzte im Praktikum gleich zu Anfang über den Stellenwert des Pflegepersonals belehren müsse – in Kates Fall völlig überflüssig, denn sie hatte schon immer enormen Respekt vor der Leistung der Schwestern und Pfleger gehabt. Möglicherweise spürte Jean Sharpe jetzt, dass sie in diesem Moment wohl bei Kate etwas zu weit gegangen war.
“Patient in kritischem Zustand in 4A”, sagte sie bissig. “Dr. Grissom hat in 6A mit einem Oberschenkel-Trümmerbruch und Tachykardie zu tun. Ich hoffe, Sie haben sich von ihrer …
Weitere Kostenlose Bücher