Aus vollem Herzen: Über das Geschenk des Lebens und die Kraft der Musik
auf die Uhr sehen zu müssen. Am Denkmal Leonardo da Vincis in der Mitte des Platzes, vom Bildhauer mit besorgten Zügen dargestellt, kam Carreras der Gedanke, dass der Ausdruck seines Gesichts so ähnlich sein müsse, stand er doch vor seinem Debüt am für den Belcanto bedeutendsten Ort der Welt. Die Empfindungen überwältigten ihn: In wenigen Tagen würde er zum ersten Mal im Opernhaus aller Opernhäuser auftreten, und außerdem hatte ihm sein Vorbild als Zeichen persönlicher Zuneigung und beruflicher Hochachtung die Tür seiner Wohnung geöffnet.
Di Stefano bewohnte mit seiner Gattin Maria, einer attraktiven Amerikanerin, und den Kindern die erste Etage eines hochherrschaftlichen Hauses. Die große Wohnung war elegant mit klassischen Möbeln eingerichtet,
im Salon standen große weiße Sofas und ein Flügel. Außer dem einen oder anderen Plakat von früheren Auftritten in Mexiko und den Vereinigten Staaten, einer Goldenen Schallplatte und einer kleinen Auswahl von Preisurkunden gab es kaum Hinweise auf die von zahlreichen Erfolgen gekrönte lange Laufbahn des Hausherrn. Augenscheinlich sah er in der Wohnung nicht den Tempel zur Verherrlichung seines Ruhmes, sondern das Heim seiner Familie, die er innig liebte.
Als er öffnete, begrüßte er den Besucher überschwänglich. Er half ihm, Mantel und Schal abzulegen, und führte ihn, den Arm freundschaftlich um die Schulter gelegt, in die Wohnung, um ihn vorzustellen. Noch heute erinnert sich Carreras an die Herzlichkeit seines Gastgebers (»Sag Pippo zu mir!«) wie auch an den Wohlgeschmack der spaghetti con pomodoro e basilico, wozu Di Stefano eine Flasche Wein aus dem Piemont entkorkte, der Tote hätte aufwecken können. Während der Mahlzeit plauderten sie so angeregt miteinander, als seien sie alte Freunde.
Carreras hatte sich gleich nach dem Betreten der Wohnung so wohlgefühlt, dass er sich beim Kaffee nicht scheute, den Älteren um einen Rat bei etwas zu bitten, das ihm keine Ruhe ließ: Einer der ersten Sätze des Riccardo in Ein Maskenball lautet »Amici miei … soldati. E voi del par diletti a me«, und Carreras klagte, dass er unzufrieden sei, wie dieses »del par« bei ihm herauskomme. Di Stefano hörte ihm aufmerksam zu wie ein Arzt, dem ein Patient sein Leiden vorträgt, und antwortete mit einem leichten Lächeln: »Da brauchst du dir überhaupt keine Sorgen zu machen, José. Weißt du auch, warum? Weil die Stelle nie gut rauskommt.« Er hätte ihm ohne Weiteres einen Rat geben können wie ein Meister seinem Schüler, hätte ihn auffordern können, sich darauf zu konzentrieren, die Töne dicht am Rand der Maske zu singen, der Stimme vom Zwerchfell aus Nachdruck zu geben und sich vorzustellen, sie komme nicht zum Mund, sondern zum Nacken heraus, und Carreras wäre von ihm noch ein wenig faszinierter gewesen, als er es vor seinem Besuch bei ihm ohnehin schon war. Doch der Star hatte es vorgezogen, die Sache herunterzuspielen, dem jungen Kollegen Vertrauen einzuflößen, ihn wie jemanden zu behandeln, der schon wissen würde, wie er seine Schwierigkeit lösen könnte. Ihm war nur allzu bewusst, dass es für einen Sänger nichts Schlimmeres gibt, als
sich von einer als kompliziert empfundenen Stelle verrückt machen zu lassen.
Di Stefano war eben auch ein Meister im Umgang mit Menschen.
Ich war wohl elf Jahre alt, als mir meine Eltern einen Kofferplattenspieler kauften, und zwar in einem Elektrogeschäft in der Calle Pelayo. Eine meiner ersten Platten war eine 33er-LP von His Master’s Voice mit von Giuseppe Di Stefano gesungenen neapolitanischen Liedern. Es waren auf jeder Seite fünf, unter ihnen »O sole mio«, »Core ’ngrato« (Undankbares Herz), »Torna a Surriento« (Sieh doch das Meer) und »Santa Lucia«. Ich hörte sie mir immer wieder an, weil mich begeisterte, mit wie viel Gefühl er sang. Fünf Jahre später konnte ich ihn im Liceu, dem Opernhaus meiner Heimatstadt Barcelona, in der Rolle des Riccardo in Verdis Ein Maskenball hören. Mich faszinierte nicht nur die Art seines Gesangs, sondern auch, wie er es verstand, sich in die von ihm dargestellte Person einzufühlen. Von jenem Tag an nahm meine Bewunderung immer mehr zu, und während der Jahre, in denen ich bei Francisco Puig Gesang studierte, der auch schon den unter dem Vornamen Giacomo bekannt gewordenen Jaume Aragall unterrichtet hatte, hörte ich mir zu Hause immer wieder voll Begeisterung neue Aufnahmen Di Stefanos an und malte mir dabei aus, wie dieser das wohl auf der
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