Aus vollem Herzen: Über das Geschenk des Lebens und die Kraft der Musik
wiederholen lassen, und wie sich zeigte, hatte er richtig verstanden: Die Probe sollte in der Tat zu dieser frühen Stunde stattfinden. Für einen Opernsänger, der es gewohnt ist, am späten Abend zu singen, ist das äußerst anstrengend. Gewöhnlich entspannte sich Carreras im Bett noch ein wenig, indem er ein Buch las, bis er einschlief. Mithin begann er seinen Nachtschlaf erst in den
frühen Morgenstunden und hatte sich daran gewöhnt, aufzuwachen, wenn sein Körper befand, dass er genug geschlafen hatte. Zwar war es we - gen der Reisen und der Interviews nicht immer möglich, bis weit in den Vormittag im Bett zu bleiben, aber so früh bei Stimme sein zu müssen, und noch dazu mit den Berliner Philharmonikern unter Karajan in Salzburg, war in seinen Augen eine Herausforderung.
Ich stand viel früher auf, als sinnvoll gewesen wäre. Schon um sechs Uhr machte ich Geläufigkeitsübungen, probierte meine Stimme aus und ging meinen Part noch einmal durch. Ich bestellte mir das Frühstück aufs Zimmer, brachte aber kaum etwas herunter, da ich ein Grummeln im Bauch verspürte. Mich quälte die Vorstellung, dass ich nicht meine beste Form erreichen könnte und Karajan bei den Salzburger Festspielen auf mich verzichten würde. Da es von meinem Hotel zur Hofstallgasse 1 nicht weit war, traf ich lange vor der festgesetzten Zeit am Festspielhaus ein. Als der Maestro erschien, trat absolute Stille ein. Offensichtlich war er guter Stimmung. Er begrüßte uns alle mit freundlichen Worten, hieß mich als Künstler in Salzburg willkommen und wünschte mir Glück. Nach dieser Einleitung begann die Probe. Noch mehr Sorgen als die Herausforderung, als Erster singen zu müssen, machte mir die Tatsache, dass diese Passage äußerst anspruchsvoll ist – und prompt trat das Schlimmste ein, was geschehen konnte. Ich war so nervös, dass ich, als ich das »Kyrie eleison« anstimmen sollte, keinen einzigen Ton herausbrachte und mich damit begnügte, die Lippen im Rhythmus der Musik zu bewegen, ohne meine Stimme zu benützen. Ich nahm an, nun wäre alles vorbei, doch Karajan blieb gelassen. Ich fürchtete sogar, dass damit der für den Sommer vorgesehene Don Carlos ins Wasser fallen würde, und war nach der Probe äußerst beunruhigt. Doch der Dirigent, der mit uns Italienisch sprach, schien meinem Versagen keine Bedeutung beizumessen und bestellte uns für den folgenden Tag wieder zur Probe. Nicht nur das – kurz darauf meldete sich im Hotel ein Schneider, der mir für das Kostüm des Don Carlos Maß nehmen sollte, was mich sehr beruhigte. Die nächste Probe war für zehn Uhr morgens angesetzt worden, und
Fiorenza, eine Frau mit einer ausgeprägten Persönlichkeit, hatte vor sich hin gemurmelt: »Warum nicht schon um neun?« Karajan fragte sie, ob es Schwierigkeiten gebe. Überrascht gab sie zurück, sie habe die Absicht, schon um sieben Uhr im Festspielhaus zu erscheinen, um Stimmübungen zu machen.
Die Probe am nächsten Tag verlief besser, und die Aufführung am 13. April 1976 war ein außerordentlicher Erfolg. Die Kritik erklärte, niemand habe die Stelle »hostias et preces« je so gesungen wie ich bei dieser Gelegenheit. Von da an bestand zwischen Karajan und mir eine außergewöhnliche Beziehung. Bei aller anfänglichen Distanz war er nach näherer Bekanntschaft umgänglich, sympathisch und von freundlicher Spottlust. Ich bin überzeugt, dass er in mir einen jungen Sänger sah, dessen Stimmmaterial er mitformen könnte. In Karajans Gegenwart hatte ich das Gefühl, vor einem Genie zu stehen, das ausschließlich für mich dirigierte. Ich habe mich stets außergewöhnlich frei und sicher gefühlt, wenn er mich von seinem Pult aus meisterhaft begleitete. Den treffendsten Satz über ihn habe ich von Mirella Freni gehört: »Unter Karajan zu singen ist so, wie in einem bequemen Bett zu schlafen.«
Im Verlauf von vierzehn Monaten hatte der knapp dreißigjährige José Carreras an der Mailänder Scala und mit Herbert von Karajan bei den Salzburger Osterfestspielen Triumphe gefeiert. Von da an begannen die großen Opernhäuser der Welt, sich um ihn zu reißen. Ein neuer Stern war am Opernhimmel aufgegangen, und überall wollte man ihn auf der Bühne sehen. Der Aufstieg war rascher erfolgt, als er es sich selbst vorgestellt hatte. Oft kam ihm in den Fünfsternehotels, in denen er abstieg, der Gedanke, dass er ein Glückskind und der im Islam als baraka bezeichneten Segenskraft teilhaftig war. Immer wieder musste er an das denken, was
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