Aus vollem Herzen: Über das Geschenk des Lebens und die Kraft der Musik
großen Zahl von Stars begegnet, ohne sich davon sonderlich beeindrucken zu lassen. »Aus der Nähe erkennt man, dass kein großer Unterschied zwischen einem König und einem Angehörigen des einfachen Volkes besteht und nicht Titel oder Geld das Entscheidende sind, sondern Würde und Menschlichkeit. Ich bin Fürsten begegnet, die mir nicht das Geringste bedeutet haben, und Leuten auf der Straße, von denen ich viel gelernt habe«, sagt Carreras. Aus diesem Grund bereitet es ihm auch weit mehr Genuss, mit Freunden ein Fußballspiel anzusehen oder mit seiner Familie zu Hause zu essen, als mit hochstehenden Persönlichkeiten in einem Palast zusammenzukommen oder zu einem offiziellen Empfang zu gehen, bei dem Häppchen gereicht werden.
Zu den unterhaltsamsten Tagen, an die er sich erinnern kann, gehört der Junggesellenabschied seines Sohnes Albert, zu dem die beiden mit drei Freunden Josés und einigen Freunden seines Sohnes nach Las Vegas geflogen sind, um dort im Hotel Bellagio zu feiern. Diese Tage des kameradschaftlichen
Beisammenseins mit seinen besten Kollegen hat er ausgekostet. Einer der Scherze, die sie ausheckten, war, dass sie Albert für den Besuch des Programms »O« des Cirque du Soleil in einen blauseidenen Smoking steckten, wozu er ein Hemd mit Spitzenjabot und eine auffällige Fliege trug, während die Übrigen im korrekten schwarzen Anzug, mit dunkler Brille wie Chico Martini und einem Funksprechgerät am Jackettaufschlag wie im Film Men in Black auftraten. Als Albert in diesem Aufzug in Begleitung eines halben Dutzends vermeintlicher Leibwächter erschien, waren alle im Hotel überzeugt, er müsse der Sohn eines Scheichs oder ein junger russischer Multimillionär sein. Angesichts des Aufsehens, das der Auftritt erregte, wurde der junge Mann rot, und seinen Begleitern entging nicht, dass er vor den neugierigen Blicken und dem Getuschel des Hotelpersonals am liebsten im Boden versunken wäre.
José Carreras schätzt Freundschaft höher ein als alles andere. Sicher hat das damit zu tun, dass er einen so großen Teil seines Lebens im Flugzeug, in der Einsamkeit von Hotelsuiten und in der oberflächlichen Geselligkeit von Empfängen verbringt. Er weiß, wie wichtig es ist, Menschen zu haben, die einem nahestehen, einen ohne große Worte verstehen und mit einem harmonieren. Nicht viele können sich seiner Freundschaft rühmen, aber die wenigen Mitglieder dieses kleinen Kreises haben ihn nie enttäuscht. Wenn es nötig war, um die halbe Welt zu reisen, um ihn in Seattle im Krankenhaus zu umarmen, haben sie das getan, und wenn er das Bedürfnis hatte, sie bei einer Aufführung am anderen Ende der Welt in seiner Nähe zu wissen, sind sie auch dorthin gereist. Diese Freunde sehen in ihm einen weit überdurchschnittlich intelligenten, gefühlsbetonten und intuitiven Menschen, der in sich gekehrt und bis zur Schüchternheit zurückhaltend ist. Man könnte sagen, dass es für ihn lebenswichtig ist, sich mit einem Schutzpanzer zu umgeben, denn immerhin ist er während des weitaus größten Teils von Unbekannten umgeben. Zwar rühmen, bewundern und verehren sie ihn, sind ihm aber fern. Auch weiß er nie, ob ein Lob ernst gemeint ist oder derjenige, der es ausspricht, sich etwas von ihm erhofft. Doch das hindert ihn nicht, sich anderen gegenüber liebenswürdig, aufmerksam und entgegenkommend zu verhalten.
Zu seinen Stärken gehört die Fähigkeit, seine Angst zu beherrschen,
was für einen darstellenden Künstler von grundlegender Bedeutung ist. Carreras kann eine Erkältung am Tag eines Auftritts ebenso überspielen wie die Anspannung bei einer wichtigen Galavorstellung. Es liegt auf der Hand, dass man eine solche Fähigkeit erst im Laufe der Zeit erwirbt. Als er zum ersten Mal vor Karajan singen sollte, hat er keinen Ton herausgebracht, doch im Laufe der Jahre hat er es verstanden, seine Empfindungen auf der Bühne zu beherrschen, und ist heute ein Meister auf diesem Gebiet.
Von allen, die ich kenne, lässt sich Alfredo Kraus am wenigsten verrückt machen. Obwohl er am nächsten Abend um acht Uhr an der Metropolitan Opera singen musste, hat er den Empfang beim spanischen Konsul in New York erst um zwei Uhr morgens verlassen. Mir ist diese Kaltblütigkeit nicht in die Wiege gelegt worden: Ich habe mir aneignen müssen, was nötig ist, um innerlich zur Ruhe zu kommen und das Gefühl zu besiegen, das den Sänger befällt, bevor er auf die Bühne tritt: Wenn es ihm vorkommt, als stehe er vor einem Abgrund. Es
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