Auschwitz
glauben machen wollten, sie seien Roboter gewesen, die gegebene Befehle gleich welcher Art blind hätten ausführen müssen, ungeachtet persönlicher Gefühle. Die Wahrheit ist aber, daß Höß alles andere als ein Roboter war. Im zweiten Halbjahr 1941 und im ersten Halbjahr 1942 war Höß höchst innovativ tätig und befolgte nicht nur Befehle, sondern ergriff eigene Initiativen, um die Tötungskapazitäten in Auschwitz zu steigern. Und nicht nur Höß dachte und handelte in dieser entscheidenden Zeit so, viele andere Nationalsozialisten spielten eine ähnliche Rolle. Ein bedeutender Faktor in der Entwicklung des Vernichtungsprozesses war die Art, wie verschiedene Initiativen »von unten« zu der zunehmenden Radikalisierung des Vorgehens beitrugen. Nach dem Krieg versuchte Höß dann, wie Hunderte anderer Nationalsozialisten auch, die Welt davon zu überzeugen, daß in Wirklichkeit nur ein Mann wirklich Entscheidungen gefällt habe: Adolf Hitler. Aber die »Endlösung« war das kollektive Wollen vieler – das läßt sich deutlich zeigen, wenn man den Entscheidungsprozeß untersucht, der im Herbst 1941 zur Deportation auch der deutschen Juden führte.
Der im Juni des Jahres begonnene Krieg gegen die Sowjetunion führte zu einer so radikalen Lösung des von der NS-Führung selbst geschaffenen »jüdischen Problems«, wie man sie noch nicht gesehen hatte: zur Vernichtung der sowjetischen Juden, zur Ermordung von Männern, Frauen und Kindern. Aber die Juden Westeuropas und des Deutschen Reiches waren von dem Gemetzel noch relativ unberührt. Die Nationalsozialisten gingen weiterhin davon aus, daß sie »nach Osten« deportiert werden würden, sobald der Krieg vorbei war, und das bedeutete im optimistischen Denken Hitlers, Himmlers und Heydrichs irgendwann im Herbst 1941. Was genau geschehen sollte, wenn sie »nach dem Krieg« nach Osten geschickt wurden, ist unklar, da ja noch keine Todeslager auf sie warteten. Wahrscheinlich hätte man sie in den unwirtlichsten Teilen des NS-beherrschten Rußland in Arbeitslager gesteckt; auch das wäre zum Völkermord geworden, allerdings zu einem verzögerten, mehr in die Länge gezogenen Völkermord als es der mit der schnellen Tötung in den Gaskammern in Polen war.
Aber im August wurden mehrere NS-Führer ungeduldig. Sie wußten, daß die sowjetischen Juden im Osten bereits auf die brutalste Weise gemordet wurden. Warum schickte man nicht gleich auch deutsche Juden ins Zentrum dieses Massentötungsbetriebs? Joseph Goebbels, Propagandaminister und Gauleiter von Berlin, gehörte zu denen, die in dem Sommer die Führung übernahmen und darauf drängten, daß die Juden Berlins nach Osten zwangsdeportiert würden. Bei einem Treffen am 15. August wies Goebbels’ Staatssekretär Leopold Gutterer darauf hin, daß von den 70 000 Juden in Berlin nur 19 000 arbeiteten (ein Zustand, den natürlich die Nationalsozialisten selbst geschaffen hatten, als sie so viele einschränkende Bestimmungen gegen Juden erließen). Die anderen, meinte Gutterer, sollte man »nach Rußland abkarren … am besten wäre es, diese überhaupt totzuschlagen.« 2 Als Goebbels dann am 19. August selbst mit Hitler zusammentraf, machte er sich ebenfalls für eine schnelle Deportation der Berliner Juden stark.
In Goebbels’ Kopf herrschte noch das Hirngespinst von der Rolle, die die Juden im Ersten Weltkrieg gespielt haben sollten. Während deutsche Soldaten an der Front litten, hätten angeblich die Juden daheim in der Sicherheit großer Städte von dem Blutvergießen profitiert (in Wirklichkeit waren bekanntlich die Juden in proportional gleicher Zahl an der Front gefallen wie ihre Landsleute). Und jetzt, im Sommer 1941, war klar, daß die Juden in Berlin blieben, während die Wehrmacht in dem brutalen Krieg im Osten kämpfte – was konnten sie auch sonst tun, da die Nationalsozialisten deutschen Juden den Eintritt in die Wehrmacht verwehrten. Wie so oft hatten die Nationalsozialisten die Umstände selbst geschaffen, die zu ihren Vorurteilen paßten. Aber trotz Goebbels’ Flehen wollte Hitler noch nicht zulassen, daß die Berliner Juden deportiert würden. Er blieb dabei, der Krieg habe noch Vorrang und die »Judenfrage« müsse warten. Doch eine von Goebbels’ Bitten erfüllte Hitler. Als bedeutsame Steigerung antijüdischer Maßnahmen erklärte er sich damit einverstanden, daß die deutschen Juden mit einem gelben Stern gekennzeichnet würden. In Polen waren Juden schon seit den ersten Monaten des
Weitere Kostenlose Bücher