Auschwitz
wegsahen.« Einer von Uwe Storjohanns Freunden war »Vierteljude« und mußte »herzzerreißenden« Abschied von seiner Lieblingstante und einer Großmutter nehmen. Er selbst durfte bleiben, aber die beiden waren »Volljuden« und mußten fort. Als er solche Szenen der Verzweiflung miterlebte, quälte Uwe Storjohann eine Empfindung: »Es war das Gefühl von Gott sei Dank, daß du nicht als Jude geboren bist. Gott sei Dank, daß du nicht einer von denen bist. Du hättest doch ebensogut als Jude geboren sein können, denn niemand kann sich seine Eltern aussuchen, und dann würdest du umgesiedelt werden. Und du würdest mit so einem Stern herumlaufen! Ich erinnere mich noch heute an dieses Gefühl … Und sofort kam mir der Gedanke: ›Was wird mit diesen Menschen geschehen?‹ Und ich wußte natürlich, nach allem, was ich gehört hatte, daß es nichts Gutes sein würde, nichts Positives. Sie würden irgendwie in eine schreckliche Welt abgeschoben werden.«
Die Frage, was »normale« Deutsche über das Schicksal der Juden wußten, hat heftige Auseinandersetzungen ausgelöst. Uwe Storjohanns Eingeständnis, er habe gewußt, daß die deutschen Juden in eine »schreckliche Welt« geschickt würden, kommt wahrscheinlich der Geisteshaltung der meisten Deutschen zu der Zeit nahe. Sie wußten, daß die Juden nicht zurückkommen würden. Der Hausrat, den die jüdischen Familien in Hamburg zurückgelassen hatten, wurde öffentlich versteigert. Und ohnehin wußten viele »normale« Deutsche, daß den Juden im Osten »schlimme Dinge« passierten. Ein Bericht des SD (Sicherheitsdienst, der SS-Geheimdienst unter Reinhard Heydrich) aus Franken vom Dezember 1942 zeigt, daß die Nationalsozialisten sich selbst Sorgen machten, welche Wirkung Nachrichten von dem Massenmord im Osten auf die Deutschen haben konnten: »Ein sehr starker Grund zum Unbehagen unter denen, die der Kirche nahestehen, sowie in der ländlichen Bevölkerung entsteht zur Zeit durch Nachrichten aus Rußland, in denen von der Erschießung und Vernichtung der Juden die Rede ist. Diese Nachrichten bereiten oft großen Kummer, Angst und Besorgnis unter jenen Teilen der Bevölkerung. Nach allgemeiner Auffassung der Landbevölkerung steht noch lange nicht fest, daß wir den Krieg gewinnen, und wenn die Juden nach Deutschland zurückkommen, werden sie fürchterliche Rache an uns nehmen.« 5
Trotz dieses Wissensstands in der Bevölkerung gab es nur wenig Proteste gegen die Deportation der deutschen Juden und gar keine in Hamburg im Oktober 1941 zu Beginn dieser Maßnahmen. Die drei Eichengreen-Frauen stiegen also, nachdem sie zu Fuß den Bahnhof erreicht hatten, in einen Wagen dritter Klasse mit Holzbänken. Als der Zug abfuhr, wurde Lucille klar, daß dies »eine Bahnfahrt ohne Ziel war. Es war eine Bahnfahrt ins Nichts, und wir wußten nicht, was auf uns zukam.«
Sie sollten schließlich auf Umwegen in Auschwitz landen, wo inzwischen die Pläne zu einer gewaltigen Erweiterung umgesetzt wurden. Ein ganzes neues Lager sollte drei Kilometer vom Stammlager entfernt gebaut werden, auf einem sumpfigen Gelände, das die Polen Brzezinka nannten und die Deutschen Birkenau. Obwohl Auschwitz-Birkenau später Ort des Massenmords an den Juden wurde, war das nicht der Grund für seine Errichtung. Birkenau war vorgesehen als Lager für Kriegsgefangene, nicht für Juden.
Nach heute geltender Auffassung hat Himmler, als er Auschwitz 1 im März 1941 besuchte, Höß befohlen, ein riesiges Lager für Kriegsgefangene zu bauen, das 100 000 Gefangene aufnehmen könne. Diese Information stützt sich nur auf Höß’ Erinnerungen, die, wie wir gesehen haben, in der Datierung unzuverlässig sind. Wenn der Bau des Kriegsgefangenenlagers tatsächlich im März 1941 von Himmler befohlen wurde, dann fragt man sich, warum bis Oktober nicht mit der Planung begonnen worden war. Nach Forschungen in russischen Archiven ist neues Material zutage gefördert worden, das dieses Rätsel aufklärt. Ein Dokument aus dem Auschwitzer Baubüro mit Datum 12. September 1941 enthält eine detaillierte Beschreibung des Ist-Zustands und der zukünftigen Erweiterung von Auschwitz 1, dem Stammlager, auf ein Fassungsvermögen von 30 000 Gefangenen. 6 Weder in diesem Dokument noch in den verschiedenen Anlagen wird erwähnt, daß in Birkenau ein Gefangenenlager gebaut werden soll. Es ist daher stark anzunehmen, daß es an jenem 12. September 1941 noch keine genauen Pläne für Birkenau gab.
Eine weitere kürzlich
Weitere Kostenlose Bücher