Ausdruckstanz ist keine Lösung: Geschichten
Hammond-Orgel, Herr Koch am Schlagzeug. Ich war sehr zufrieden mit der selbst gewählten Aufgabe, mit Tabletts voll Schnäpsen durch die Tischreihen zu gehen. Zur Auswahl standen Apfelkorn und Klarer. Ich hatte bis damals selbst noch keinen Alkohol getrunken, aber ich hatte Spaß daran, die Gäste abzufüllen. Tante Anna, meine Großtante, aber meinte, ich wäre ergotherapeutisch unausgefüllt, und forderte mich zum Tanzen auf. Ich konnte nicht Nein sagen. Sie war über siebzig und ich dreizehn. Bestimmt hat sie es gut gemeint. Ich durfte mir bei den Musikanten ein Lied wünschen, und dann hampelten wir zu Karl Dalls Schlager »Diese Scheibe ist ein Hit« auf dem Parkett herum. Ohne Anfassen, also discomäßig im Rhythmus. Das war sicher ein grotesker Anblick, aber es wäre noch alles in Ordnung gewesen, wenn die anderen Gäste nicht einen Kreis um uns gebildet und diese Ach-wie-niedlich-Gesichter aufgesetzt hätten. Irgendwann war es vorbei, und dann hat Tante Anna mit mir einen Apfelkorn getrunken. Es war damals nicht ungewöhnlich, dass Erwachsene sich bei jungen Jugendlichen einzuschleimen versuchten, indem sie sie zu einem Schnaps einluden. Es hat ja auch meistens funktioniert. Erwachsen wurde man nicht durch unnatürliche, zur Schau gestellte Bewegungen auf einer Tanzfläche, sondern durch Schnapstrinken mit Angehörigen einer älteren Generation.
Als dann im siebten oder achten Schuljahr die Entscheidung für oder gegen den Tanzkurz anstand, riet mir mein ältester Bruder ab. Man käme von einer peinlichen Situation in die andere und aus dem Schwitzen gar nicht mehr raus. Im schlimmsten Falle sogar bliebe man bei der Damenwahl sitzen und müsse mit Frau Stüwe-Weissenberg tanzen. Eine ähnliche Situation kannte ich von der Mannschaftsbildung im Sportunterricht. Ich kippte mir einen Schuss seines Johnnie Walker in meine Cola, beherzigte seinen Rat und habe es bis heute nicht bereut.
Später erfuhr ich, dass der wahre Ausdruckstanz das Pogotanzen als Jugendlicher ist. Am liebsten mit den verbündeten Genossen von der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend im Salvador-Allende-Zentrum; zu »Temple of Love« von den Sisters of Mercy oder »Deutschland muss sterben« von Slime. Man springt, man rempelt, man umarmt sich, man schwitzt wie Sau, und zwischendurch trinkt man Karlsquell bis zum Umkippen. Man lässt die ganze pubertäre Wut raus, und zwischendurch freut man sich. Mit etwas Abstand betrachtet, ist aber auch dieser Ausdruckstanz keine längerfristige Lösung. Geht auf die Bandscheiben und auf die Leber.
Freibäder sind Schicksalsorte
Von mir aus könnten alle Freibäder geschlossen werden, die Schwimmbecken mit Sand aufgeschüttet und mit Rasen eingesät werden. Denn nur darum geht es doch im Freibad. Um die Rasenflächen. Gut, bei schönem Wetter ist das Wasser voller Menschen, so voll, dass an Schwimmen gar nicht zu denken ist. Das Wesentliche für Kinder und Jugendliche ist ja nicht die Fortbewegung im Becken, sondern die Wasserverdrängung mittels einer sogenannten Arschbombe. Zack, hat man einen im Kreuz, dass es nur so knackt. Wasserverdrängung funktioniert auch durch das Werfen von Leibern ins Becken. Körper, die von der Sonne bis zum Glühen aufgeheizt sind und folglich beim Eintauchen ins kühle Nass einen lebensbedrohenden Schock erleiden. Solche Aktionen werden Spaß genannt. Aber tatsächlich werden die Schwimmbecken nur benutzt, weil sie da sind, weil es nun mal Schwimmbad heißt und nicht Rasenfläche. Eigentlich wollen alle nur das Grün benutzen. Als Pubertätsbühne.
Das Freibad ist das Revier der Jugend. Hier finden erste ungeschickte Annäherungen statt. Hier sollen Körper in aufkeimendem Glanz erstrahlen. Erste Hautkontakte werden vollzogen. Wer Karin den Rücken eincremen darf, ist König; wenn sie dabei hinten ihren Bikiniverschluss aufmacht, Kaiser. Zunächst liegen die Mädchen und die Jungen in zwei getrennten Gruppen beieinander. Doch im Laufe des Sommers findet der eine und andere Junge den Mut, sich neben ein Mädchen zu legen, und umgekehrt. Erste große Lieben entstehen. Ein paar Jungen bleiben zurück. Ein paar sind immer übrig. Einer ist immer der Arsch.
Spiele werden gespielt. Frisbee auf dem Rasen und Rommé auf dem Badehandtuch. Das Wasser ist uninteressant. Manche Jungen gehen langsam die gesamte Grünfläche ab auf der Suche nach Frauen, die sich oben ohne sonnen. Dann spielen die Hormone verrückt, und in diesem Zustand kommen sie wieder zu ihrer Gruppe
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