Ausdruckstanz ist keine Lösung: Geschichten
Versehrten-Badetag war ich zur Stelle, wenn jemand Probleme mit seinem Holzbein hatte. In der warmen, feuchten Luft des Hallenbades entwickelt man eine stoische Gelassenheit. Man bewegt sich wie in Zeitlupe. Es ist wenig zu tun, folglich kriechen die Minuten mühsam bis zum Schichtende. Die Arbeit ist anspruchslos, trotzdem muss man eine gewisse Autorität ausstrahlen. Angenehme Abwechslung war es immer für mich, wenn ich ab und zu für zehn Minuten den Schwimmmeister vertreten sollte, weil der mal eben zum Kühlschrank im Aufenthaltsraum wollte. Im öffentlichen Dienst wird viel gesoffen. Als Schwimmmeister hat man Macht. Man kann Leute anpflaumen, wenn sie vom Beckenrand springen, und man kann willkürlich entscheiden, ob der Dreier geöffnet wird oder nicht. Ich habe diese Momente der Entscheidungskompetenz genossen.
Eines Tages in den Sommerferien nun tauchten drei der oben erwähnten Pimpfe in meinem Arbeitsbereich auf. (»Pimpf« bedeutet übrigens ursprünglich »kleiner Furz«, doch das nur nebenbei.) Sie waren vermutlich noch nicht einmal in die Pubertät eingetreten, aber immerhin schon so weit, Autoritäten von vornherein abzulehnen. Sie schrien und tobten durch die Sammelumkleide – es war die Hölle. Auf den nassen Fliesen kann man leicht ausrutschen; und auch wenn ich mir wünschte, dass diese Produkte einer verfehlten Erziehung sich das eine oder andere Körperteil aufschlugen, wusste ich doch, dass ich im Falle einer Verletzung ziemlichen Ärger an den Hacken haben würde. Also rief ich sie zur Ordnung. Sie reagierten nicht. Eine zweite Verwarnung brachte ebenfalls nichts. Als Wachsoldat hätte ich nun schießen dürfen. Stattdessen erklärte ich, dass ich durchaus die Befugnis habe, sie des Bades zu verweisen. »Du bist doch von unserer Schule«, krähte eines der Monster, »wie heißt du eigentlich?« Ich konnte es nicht dulden, in meiner öffentlichen Position geduzt zu werden, also sagte ich: »Ich heiße Herr Scheffler.« Die drei Zwerge lachten sich kaputt und gingen schwimmen.
Vermutlich war es ein Fehler, auf der korrekten Anrede zu bestehen, aber hätte ich mich kumpelhaft anbiedern sollen? Die drei kamen im Laufe des Sommers noch ein paar Mal, hatten aber scheinbar die Lust aufs Randalieren verloren. In Wirklichkeit hatten sie einen eiskalten Plan ausgeheckt, um mich in den Wahnsinn zu treiben. Schon am ersten Schultag nach den Ferien lauerte mir eine Meute gerade in die sechste Klasse versetzter Nervensägen auf und rief über den ganzen Schulhof: »Hallo, Herr Bademeister! Hallo, Herr Bademeister!« Schüler aus meinem Jahrgang drehten sich um und lachten. Dieses eine Mal wäre das vielleicht noch lustig gewesen. Aber so geschah es in der Folgezeit an jedem Morgen, in jeder Pause und oft auch nach Schulschluss. »Hallo, Herr Bademeister!« Es führte dazu, dass ich versuchte, erst knapp vor Stundenbeginn zu erscheinen. In den Pausen versteckte ich mich in dunklen Ecken. Es nützte nicht viel. Ich schlief schlecht und hatte Albträume. In einem sah ich mich in Bademeisterkluft ans Drei-Meter-Brett gekettet, und alle Hallenbadbesucher schmähten mich. Ich hatte weniger Angst vor Klausuren als vor diesen Quintanerzecken. Immer häufiger wurde ich auch von meinen Kurskollegen mit »Herr Bademeister« begrüßt. Lehrer sprachen mich an, was das denn solle, und mussten grinsen, nachdem sie meine Erklärung gehört hatten. Ein Wunder, dass mich mein damaliger, sadistischer Lateinlehrer nie so genannt hat! Gerne hätte ich die Giftzwerge vermöbelt, aber wie hätte das ausgesehen! Schwächere verhauen ging nicht, auch wenn ich es liebend gern getan hätte. Diese Mistratten hatten die Macht. Und ich musste den Hohn und Spott erdulden.
Das Ganze ging etwa drei Monate so. Irgendwann tröstete ich mich damit, dass ich letzten Endes doch am längeren Hebel sitzen würde. Im folgenden Sommer im Hallenbad sprach ich mehrere befristete Hausverbote aus. Die sind bindend, auch von einer Aushilfe. Die Kinder haben beinahe geheult. Dabei hatten sie gerade etwas Entscheidendes über das Leben gelernt: Sobald jemand über Macht verfügt, nutzt er sie kalt und gnadenlos aus.
Kerben im Gürtel
Als Jugendlicher habe ich Briefmarken gesammelt und Bierdeckel. Das erfordert Disziplin, Sorgfalt und Ausdauer. Es stärkt den Charakter. Es befördert einen Ehrgeiz nach Vollständigkeit. Wie stolz war ich damals, als ich den Gustav-Heinemann-Satz, sowohl gestempelt als auch ungestempelt, zusammenhatte. Die
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