Auserkoren
Mutter vor Abigails Tod die Stoffbahnen ausgelegt hat, schneide ich das Hochzeitskleid in Streifen. In dünne Streifen. Streifen, die sogar zu dünn sind, um daraus eine Patchwork-Decke zu machen. Sie sind so dünn, dass man nur ein Feuer damit machen könnte.
»Kyra?« Laura steht in der Tür.
Ich zucke zusammen. Ich habe lauter Stoff in den Händen. Ein paar Streifen sind heruntergefallen. Sie liegen am Boden, vor Lauras Füßen.
»Was machst du da?«
Als ich meinen Mund aufmache, kommt zuerst kein Ton hervor. Das ist der Beweis! Laura wird merken, dass ich mich verändert habe. Sie wird sehen, dass ich eine andere geworden bin. Wie ist es möglich, dass sie mich noch erkennt?
»Ich gehe«, sage ich.
Sie tappt über den Fußboden, schlingt die Arme um mich und um die Stoffstreifen, drückt die Lippen auf mein Gesicht.
»Wohin gehst du?« Ihr Atem ist warm. Ich schließe kurz die Augen.
»Weg von hier.« Dem anderen Ich ist es egal, wohin. Nur weg. Weg von hier.
Laura hat Tränen in den Augen. »Geh nicht«, bittet sie. Aber sie gibt mir einen Abschiedskuss. Und noch einen und noch einen.
»Ich liebe dich«, sagt sie.
»Ich liebe dich auch«, antworte ich.
Sie steht auf der Veranda und sieht mir nach, wie ich weggehe. Ihre Stimme folgt mir im Halbdunkel. »Auf Wiedersehen, meine Kyra.« Ihre Worte verraten mir, dass sie noch immer weint.
Vor Onkel Hyrums Haus bleibe ich stehen. Ich verteile die Stoffstreifen über die ganze Treppe, über alle Sträucher am Hauseingang, über den saftig grünen Rasen in seinem Garten. Wenn er mich nicht hätte heiraten wollen,
würde ich jetzt nicht gehen. Wenn er mich nicht hätte heiraten wollen, wäre Joshua vielleicht noch da. Die kleine Abigail wäre am Leben. Patrick wäre am Leben.
Aber nein, das stimmt nicht ganz.
Es hat nicht nur mit Onkel Hyrum zu tun.
Es ist nicht allein seine Schuld. Vielleicht hat er gar keine Schuld daran.
Ich bleibe stehen und presse die Hände fest zusammen, dann gehe ich zurück zu meinen Ölbäumen. Mutter und Vater sind überzeugt davon. Sie sind überzeugt davon, dass es richtig ist, was sie tun. Das weiß ich ganz bestimmt.
Zumindest wusste ich es, ehe ich eine Andere geworden bin.
Die Tür der Rollenden Bibliothek von Ironton lässt sich völlig geräuschlos öffnen. Ich schließe sie hinter mir, aber nicht ganz so leise. Dann hole ich Patricks Handy unter meinem Kleid hervor und schalte es ein. Meine Hände zittern wie verrückt.
Kein Empfang. So steht es im Display.
Mein Blick gleitet über die Bücher, die verstreut herumliegen.
In der Abteilung K liegt ein zweiter Schlüssel. Das hat er gesagt. Patrick hat das gesagt. Ein Autoschlüssel. Ich bin mir sicher, das hat er gemeint.
Es ist so gut wie dunkel, und es ist schwierig, in dem Wagen über die vielen Romane zu steigen. Trete ich gerade auf Bücher, die ich gelesen habe? Ist das erste
Buch, das ich gelesen habe, die Brücke nach Terabithia, unter diesem Haufen?
Ein paar Bücher rutschen unter meinen Füßen weg und ich falle auf die Knie. Ich krieche dorthin, wo die Bücher mit K stehen. Das Regal ist umgestürzt.
Ich verwende das Handy als Lampe, ziehe die Bücher aus dem Regal und lege sie ordentlich auf einen Stapel. Dick King-Smith, Gordon Korman, Uma Krishnaswami. Und da ist er. Mit Klebestreifen an das Regal geklebt. Ein Schlüssel.
Er liegt kalt und ein bisschen klebrig in meiner Hand. Ich krieche über die Bücherhaufen zurück und klettere auf den Fahrersitz. Auf Patricks Sitz. Ich stelle das Handy in den Tassenhalter, wo sonst immer die Schluckspecht-Tasse ihren Platz hatte.
Ich schließe die Augen ganz fest. »Nur bis dorthin, wo ich Handy-Empfang habe«, flüstere ich. Das Zittern hat inzwischen auch meine Knie erreicht. Meine Knochen sind aus Gummi.
Draußen ist es so dunkel, dass ich Schwierigkeiten hätte, mich zu orientieren, würde ich die Siedlung nicht so gut kennen wie die Gesichter meiner eigenen Schwestern.
»Schwierigkeiten hast du trotzdem«, sage ich zu mir. Ich merke, dass ich fast dabei lächle. Ich trete die Kupplung.
Die Rollende Bibliothek von Ironton, verbeult und eingedrückt, springt sofort an, als ich den Zündschlüssel drehe. Das Geräusch des Wagens dröhnt wie eine Bombenexplosion in meinem Ohr. Hoffentlich bin ich weit
genug weg von den Kadern Gottes, damit mir noch etwas Vorsprung bleibt.
Ich fahre an. Der Wagen ruckt und schlingert, und ich trete auf die Bremse, so stark, dass ich in meinem Sitz nach vorn
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