Auserkoren
geschleudert werde. »Du bist doch schon mit Mutter gefahren«, spreche ich mir Mut zu. Ich packe das Lenkrad und halte mich daran fest, als ginge es um mein Leben. Und genau darum geht es ja auch.
»Du kannst es, Kyra Leigh Carlson. Du kannst es.«
Du musst, denke ich.
Gott sei Dank haben sie den Lieferwagen so nahe bei unserem Wohnwagen abgestellt. Hier gibt es keine Zäune, nur vor der Hauptzufahrt. Ich fahre unendlich langsam und habe trotzdem Angst, zu schnell zu fahren. Ich komme an unserem Wohnwagen vorbei. Laura steht auf den Stufen und wartet. Sie schaut zu, wie ich an ihr vorbeifahre, und ich glaube, mein Herz hört gleich auf zu schlagen. Ich kann meinen Blick kaum von ihr abwenden, es fällt mir so schwer wie das Weiterfahren selbst. Ich drücke meine Hand an die Scheibe. Und Laura sieht es. Da steht sie. Meine Schwester. Sie hat ihre Hand nach mir ausgestreckt. Und es kommt mir fast so vor, als könnten wir uns berühren.
Dann bin ich an ihr vorbei. Ich lasse mein Zuhause, die Wohnwagen meines Vaters hinter mir. Meine Brüder und Schwestern. Meine Mütter.
Ich fahre an allen Häusern vorbei, an Gärten, an Feldern, ich fahre so langsam, mein Fuß zittert auf dem Gaspedal. Keuchend schnappe ich nach Luft, weil mir einfällt, dass ich das Atemholen völlig vergessen habe.
Jetzt, es kommt mir wie eine Ewigkeit vor, fahre ich am Zaun entlang und biege in die Richtung ab, in die ich erst vor wenigen Tagen mit meinen Müttern gefahren bin. In die Richtung, in die ich gestern mit Patrick, dem armen Patrick gefahren bin.
Ich bin immer noch vorsichtig. Ich fahre immer noch langsam. Ich hoffe, der Motor macht nicht allzu viel Krach. Ich hoffe, niemand außer Laura weiß, dass ich weggefahren bin. Meine Hände zittern, meine Knie sind weich. Ich biege auf die Straße, und als ich glaube, dass niemand dieses alte Bücherauto mehr hören kann, trete ich das Gaspedal durch.
Ich bin frei, ich fahre mit Höchstgeschwindigkeit davon. Weg von hier.
»Hast du tatsächlich geglaubt, du würdest deine Freiheit kampflos erhalten?«, sage ich zu mir selbst, als ich sehe, wie die Scheinwerfer hinter mir immer näher kommen.
»Als hätte ich nicht schon genug gezittert«, sage ich zu dem Blut an der Windschutzscheibe.
Näher kann ich Patrick nicht sein. Ich muss mich mit seinem Blut begnügen.
Im Rückspiegel sehe ich, wie jemand aufblendet.
»Ich werde nicht rechts ranfahren«, sage ich.
Ich fahre nicht schneller. Ich fahre einfach mit der Rollenden Bibliothek von Ironton im gleichen Tempo weiter.
»Siehst du«, sage ich zu dem, was von Patrick übrig ist, »sie werden mich auch umbringen.«
Der Geländewagen taucht neben dem Seitenfenster auf. Die Innenbeleuchtung geht an. Ich wage es nicht hinzuschauen aus Furcht, mich könnte der Mut verlassen. Als ich Gas gebe, zuckt mein Bein, solche Angst habe ich. Ich sehe nur Bruder Laramie auf dem Beifahrersitz. Er zeigt auf den Straßenrand, sein ausgestreckter Finger sieht aus wie ein Gewehrlauf.
»Du musst nur bis zur Stadtgrenze kommen«, sagt Patrick in meinem Kopf. »Gestern waren wir fast dort. Fast hätten wir es geschafft.«
»Ich schaffe es«, sage ich. »Ich bin keine gute Autofahrerin, aber bis dorthin schaffe ich es.«
»Nur bis du Handy-Empfang hast. Dann wähle die Notrufnummer.«
Wenn du da bist, lieber Gott, denke ich, bitte, hilf mir.
Aber Patrick hat Er ja auch nicht geholfen, oder?
»Nur noch ein paar Meilen«, flüstert Patricks Stimme in meinem Kopf. Im hinteren Teil der Rollenden Bibliothek von Ironton fliegen die Bücher von einer Seite auf die andere, während ich auf der mit Schlaglöchern übersäten Straße fahre. Ich umklammere das Lenkrad, meine Hände sind wie festgefroren. In meinem Kopf, gleich hinter Patricks Stimme, fühle ich einen kleinen Schmerz, der immer stärker wird.
»Werden sie hierhin schießen?«, frage ich.
»Es wird alles gut«, sagt Patrick.
Neben mir hat Bruder Laramie die Scheibe runtergekurbelt. »Kyra«, ruft er. »Schwester Carlson.«
Ich blicke nicht zu ihm hinüber.
»Patrick?«, sage ich. »Patrick?«
»Fahr rechts ran, Mädchen«, ruft Bruder Laramie. »Dein Tank ist fast leer.«
Er hat recht. Ich sehe die Anzeige auch. Und während ich danach sehe, streife ich fast den Geländewagen, der daraufhin etwas zurückfällt.
»Ungeduld führt nicht zum Ziel.« Das war die Stimme von Mutter Sarah, als sie mir die Geschichte vom Hasen und vom Igel erzählte. Im Geist sehe ich sie neben Patrick
Weitere Kostenlose Bücher