Ausgesetzt
Er schaltete sie ein.
Er warf ein Seil über einen Ast.
Im Lichtkegel der Lampe sah Walker ihn arbeiten. Er wusste, wofür das Seil da war. Hatte es die ganze Zeit schon gewusst.
Mole stieß ihn um, dass er mit dem Gesicht auf dem Boden landete, und zerschnitt den Strick um seine Handgelenke. Jetzt konnte Walker die Schultern bewegen. Er zog die Arme vor den Körper. Das Blut begann zu zirkulieren, und ein rasender Schmerz breitete sich bis in seine Fingerspitzen aus.
Mole schleppte ihn zum Baum. Das Seil, das er über den Ast geworfen hatte, baumelte vor Walkers Gesicht. Walker versuchte, die Arme zu beugen, aber sie bewegten sich nicht, als gehörten sie gar nicht zu seinem Körper.
Mole hockte vor ihm. Walker roch seinen Schweiß.
Mit einem Ende des herunterbaumelnden Seils fesselte er Walkers Hände wieder. Er begann zu summen, Bläschen bildeten sich auf seinen Lippen. Er summte und summte. Walker erkannte, dass der Mann vor Angst fast den Verstand verloren hatte.
Mole stand auf, brachte auch Walker mühsam auf die Beine und begann, an dem Seil zu ziehen. Er schaffte es gerade eben, Walker so weit in die Höhe zu hieven, dass er nur mehr mit den Stiefelspitzen den Boden berührte und sich ein wenig drehte. Noch mehr Hieven und Ächzen, und endlich schwang Walker frei in der Luft.
Die Arme über dem Kopf ausgestreckt und den Mund verklebt, konnte Walker nur mühsam durch die Nase atmen. Ein tonnenschweres Gewicht drückte ihm den Brustkorb zusammen. Sein Kopf war zwangsläufig in die Höhe gerichtet. Er wusste, dass er das Kinn nach unten halten musste, um atmen zu können.
Er versuchte, an die Küche in Big River zu denken. Er sah Gerard Devereaux am Tisch sitzen. Mary Louise war auch da. Und seine drei kleinen Schwestern.
Und er spürte, wie der Mann das Seil durchschnitt, mit dem seine Füße gefesselt waren, spürte wie andere Stricke um seine Knöchel geschlungen und seine Beine auseinander gezogen wurden.
Verzweiflung überwältigte ihn.
Er hatte alle enttäuscht. Besonders Lennie. Er hatte seine eigene Mutter enttäuscht, seine junge Mutter, die es irgendwie geschafft hatte, ihn zu retten. Wofür? Dafür?
Walker sah Mole davoneilen. Er rang nach Atem, kämpfte an gegen die Dunkelheit, die sich seiner bemächtigen wollte. Seine Verzweiflung verwandelte sich in Raserei. So würde er nicht sterben. Er würde überhaupt nicht sterben.
Seine Hände zogen mit aller Macht an dem Seil. Sein Körper bewegte sich nach oben. Einen Augenblick sah er seine am Gelenk zusammengebundenen Hände, aber er war zu schwer. Seine Arme streckten sich, und er sackte wieder hinunter.
Er sah sich um, so gut es ging. Noch immer war er allein im Schein der Lampe. Er versuchte, mit dem Bein auszuschlagen, das an den Baumstamm gebunden war, doch das Seil gab nicht nach. Er strampelte mit dem anderen Bein so wild er nur konnte. Dieses Bein war an etwas weniger Starrem festgebunden, vielleicht einem jungen Baum. Der gab ein bisschen nach, knickte ab, und der Knoten rutschte hoch, bis er sich irgendwo verfing. Walker hatte jetzt ein bisschen mehr Bewegungsfreiheit, sein rechtes Bein baumelte etwas lockerer herab.
Er schaute hinunter, um zu sehen, woran das Seil festgebunden war, doch statt dessen sah er jemanden am Rande des Lichtkegels stehen.
Robert stand da, vollkommen reglos, und blickte Walker in aufmerksamer Verzückung an, als sei er selbst nur Teil eines Publikums und Walker stünde auf der Bühne. Im Rampenlicht. Und wie gut er seine Rolle spielte!
Robert kam schwankend näher. Einen kurzen, zögerlichen Schritt nach dem anderen kam er über die kleine Lichtung auf ihn zu.
Allmählich konnte Walker den Ausdruck in seinem Gesicht erkennen: Erwartung und Ekstase. Und er konnte erkennen, dass das Ende der Welt gekommen war. Das Messer, das eben noch Mole in der Hand gehalten hatte, lag nun in Roberts Hand.
Robert kam ganz nah heran.
Walker spürte, wie er ihm die Lederjacke öffnete, mit kraftlosen Fingern das Hemd aufriss.
Er fühlte, wie sich Roberts kalte Lippen auf seine Haut pressten.
Die Muskeln in Walkers Bauch verhärteten sich zu einem Schild. Er hörte Robert an seinem Bauch wimmern, fühlte das Messer eindringen – nicht tiefer als die Spritze beim Zahnarzt, nur ein jäher, scharfer Schmerz, glatt wie ein Skalpell. Er fühlte, wie seine Haut sich öffnete.
»O Gott«, schrie er tief in seinem Inneren.
Robert wich zurück und sah zu ihm hoch, seine Augen verdrehten sich, bis nur mehr das Weiße
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