Ausgewechselt
nachgeben und ihn küssen. Sie, die noch nie einen Jungen geküsst hatte.
Sie hatte die Augen geschlossen, in Gedanken sprang sie ins Leere, tauchte ins Meer ein und spürte das Wasser, das ihren Körper umfing und wieder an die Oberfläche trug, freundlich und sanft. Leo erwiderte ihren Kuss und erst als er sie plötzlich sacht von sich schob, öffnete sie wieder die Augen. Es kam ihr vor, als wachte sie aus einem tiefen Schlaf auf, und das Erste, was sie sah, war Leos verstörtes Gesicht. Dann überflutete sie eine Welle der Scham und sie sprang unvermittelt auf. Leo sah sie schweigend an, er schien fassungslos oder peinlich berührt oder enttäuscht. Sie hatte nicht mehr die Kraft, länger in seiner Nähe zu bleiben, sie sprang auf ihr Fahrrad und verschwand, ohne dass Leo etwas sagte oder sie aufforderte, zu bleiben. Wie eine Furie raste sie nach Hause und verfluchte sich für das, was sie getan hatte. Sie wollte vor Scham im Boden versinken, mit ihrer Unbeherrschtheit hatte sie alles kaputtgemacht. Das war der größte Fehler ihres Lebens, den sie nie wiedergutmachen konnte: Sie hatte ihre Freundschaft zerstört.
Es klingelte und sie öffnete die Wohnungstür, das musste die Hausmeisterin sein, denn Freunde und Bekannte klingelten immer unten am Eingang. Aber es war Leo. Sie war verblüfft, damit hatte sie nicht gerechnet. Aus dem Wohnzimmer hörte sie die Stimme ihrer Mutter: »Wer ist es?«
»Für mich.«
Patricia saß wie gebannt vor der nachmittäglichen Telenovela, im Wohnzimmer war es dämmrig, weil sie den Rollladen halb heruntergelassen hatte. Leo verharrte am Eingang.
»Darf ich reinkommen?«
Viola wurde rot. »Wie bist du hergekommen?«
»Es gibt Taxis.«
»Das meine ich nicht. Bis zur Wohnungstür. Die Tür unten … «
Leo antwortete, als wäre es das Normalste der Welt: »Ich habe bei der Hausmeisterin geklingelt und sie gebeten, mir aufzumachen.«
»Und wie bist du die Treppen hochgekommen?«
»Ich zeige es dir irgendwann.«
Wie ein Geist kam Patricia aus dem Wohnzimmer und schlug überrascht die Hände zusammen. »Leo!« In ihren Augen lag die gleiche stumme Frage: Wie bist du hier hochgekommen? Leo lächelte ihr charmant zu. »Wie geht’s Ihnen? Ich wollte euch überraschen.«
»Bist du alleine die Treppe hochgekommen?«
»Klar. Das ist einer meiner geheimen Tricks, um Mädchen aufzureißen.« Dabei blinzelte er Patricia zu und sie lachte. Violas Miene verfinsterte sich kurz, dieser Typ flirtete sogar mit Müttern! Aber Patricia war zufrieden, sogar ein bisschen stolz. »Ich mache euch einen Eistee, was meint ihr?«
Leo rollte in Richtung von Violas Zimmer. »Danke, sehr gerne, ich habe mich ziemlich beeilt und es ist doch ganz schön heiß.«
Viola folgte ihm und sobald Leo im Zimmer war, setzte sie sich auf einen Stuhl, damit ihre Gesichter auf gleicher Höhe waren. Ihr Blick war aber nach unten gerichtet. »Es tut mir leid.«
»Quatsch, das war gar kein Problem. Ich habe immer das Handy dabei. Du hättest mal den Gesichtsausdruck des Taxifahrers sehen sollen, als er mich gesehen hat. Ich glaube, am liebsten hätte er gewendet und wäre weggefahren. Aber ich habe ihm sofort ein schlechtes Gewissen gemacht: ›Haben Sie etwas gegen Behinderte?‹ Und er: ›Wer? Ich? Natürlich nicht! Aber du brauchst ein Großraumtaxi, wohin sonst mit dem Rollstuhl?‹ Und ich: ›Kein Problem, der lässt sich zusammenklappen, wie ein Buggy für Kinder.‹ Und er, geschäftstüchtig: ›Das muss als Gepäck extra bezahlt werden.‹ Da habe ich gesagt: ›Ich habe doch auch keinen Behindertenrabatt verlangt.‹ Das nächste Mal wird er am Telefon wahrscheinlich fragen, ob der Anrufer im Rollstuhl sitzt. Bevor wir hierher gefahren sind, haben wir bei mir zu Hause einen Zwischenstopp gemacht. Da musste der Taxifahrer auch noch meine Mutter ertragen, die sich am Türgriff des Taxis festklammerte, während ich ihm geraten habe: ›Fahren Sie, sie wird garantiert erst loslassen, wenn Sie fahren.‹«
Hin und wieder warf Viola ihm einen kurzen Blick zu und lachte über die Geschichte, die Leo erzählte, aber sie wagte es nicht, ihm offen ins Gesicht zu sehen. Die Scham brannte immer noch in ihr.
Sie hatte ihm sagen wollen, wie sehr ihr der Kuss leidtat, und er hatte etwas ganz anderes verstanden, aber jetzt wollte sie nicht noch einmal damit anfangen. Stattdessen fragte sie: »Warum bist du gekommen?«
»Weil ich dich beeindrucken wollte, ich wollte zu dir kommen, damit du nicht zu mir
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