Ausgewechselt
Zauberer oder so!«
»Und was hat der gesagt?«
»Keine Ahnung! Er ist nach Hause gekommen und hat von diesem berühmten Schamanen erzählt, der irgendwo in der Wildnis lebt. Er soll Wunder vollbringen können und mein Vater hat natürlich alles geglaubt. Er wollte mich sofort zu ihm bringen.«
Viola fragte mit leicht ironischer Stimme: »Glaubst du etwa nicht an Wunder?«
Leo wandte sich um, sein Gesichtsausdruck wurde sanft. »Ich glaube an alles Mögliche. Ich hoffe auf alles Mögliche, aber ich kann es mir nicht leisten, mich von irgendwelchen Scharlatanen verarschen zu lassen. Ich versuche mir vorzustellen, wie mein Leben sein könnte, und mein Vater macht sich Illusionen, das ist der große Unterschied.«
»Ich weiß. Wir jungen Leute stellen uns etwas vor, die Erwachsenen nicht. Es kommt mir vor, als hätten sie die Fähigkeit dazu verloren.« Viola sah wieder auf den Busch. »Hör mal, wie die sich da drin abrackern. Dort ist ihr Zuhause, ihre eigene Stadt, die wir nicht sehen können, und wir beide sind ihnen völlig egal. Erinnerst du dich an das Buch von Italo Calvino, von dem wir ein Kapitel gelesen haben? Es heißt Die unsichtbaren Städte .«
»Ich erinnere mich an fast gar nichts, in der Schule war ich immer nur körperlich anwesend, das müsstest du doch wissen.«
Viola überging Leos verächtliche Bemerkung über sein früheres Ich und fügte hinzu: »Das Kapitel spielte in einer Stadt, die immer weitergebaut wird. Die Leute, die dorthin kamen, fragten sich, welches Ziel die Bewohner damit verfolgten. Für Erklärungen hatten diese aber keine Zeit und vertrösteten die Fremden auf den Abend, dann würden sie ihnen den Plan erklären. Das taten sie dann auch, indem sie einfach auf den Sternenhimmel zeigten: Das war ihr Ziel, das war ihr Plan.«
Leo legte den Kopf zurück und schloss die Augen. »Und du meinst, so ist das auch mit uns?« Viola antwortete nicht. Sie hatte sich wieder auf die Wiese gelegt. »Und wenn es in jedem von uns eine unsichtbare Stadt gäbe?«
Viola hatte die Hände hinter dem Nacken verschränkt. Allmählich kam dieses Gespräch ihr vor wie ein Traum, denn mit geschlossenen Augen konnte sie die geplante Stadt vor sich sehen. Eine Stadt wie keine zweite, in der es keine Straßen oder Häuser gab, sondern nur Gebilde, die an Insektenflügel und Insektenbeine erinnerten, an Zweige, Blätter, Stacheln und Blütenpollen. Sie hatte das Gefühl, im Traum von dieser Stadt eingesogen zu werden, wie von der unsichtbaren Stadt in diesem brummenden, summenden Busch, mitten auf der Wiese.
Fünf Hürden auf einmal
Es war Ende Mai. Im ganzen Park grünte und blühte es, die Luft war erfüllt von Düften, aus jedem Grashalm, aus jeder noch so kleinen Blüte stiegen sie auf, fein oder schwer, herb oder süß, jeder wollte in diesem Rausch der Gerüche auf sich aufmerksam machen.
Sie waren auf dem Weg in den Park, Viola mit dem Fahrrad, Leo mit dem Rollstuhl. Auf dem Radweg fuhren beide nebeneinander und unterhielten sich, den Rest des Weges benutzten sie den Bürgersteig, Viola vorneweg, Leo hinterher. Gegen halb drei war ohnehin kaum jemand unterwegs an diesem fast schon sommerlich heißen Tag. Verschwitzt kamen sie im Park an und legten sich im Schatten einer Linde ins Gras. Den Rollstuhl und das Fahrrad hatten sie an den Stamm gelehnt, sie selbst machten es sich auf einem Badetuch bequem.
»Es ist schon richtig heiß«, meinte Viola.
»Aber schön, oder?« Leo hatte es sich mit dem Rücken am Baumstamm gemütlich gemacht, seine Augen leuchteten, sein Gesicht war gerötet, die verschwitzten Haare klebten in seinem Nacken. Sie reichten ihm mittlerweile bis auf die Schultern, sie gaben ihm das Gefühl von Geborgenheit, als würden zarte Finger seinen Nacken streicheln.
»Was für eine Hitze, der Weg bis hierher ist ganz schön anstrengend.«
Viola sah ihn verlegen an. Wie gerne hätte sie seine weichen Haare berührt, seine Haut an ihrer Haut gespürt und ihn geküsst. Aber die Vorstellung eines Kusses ließ sie den Blick senken, gleichzeitig veränderte sich ihr Gesichtsausdruck.
Leo fragte besorgt: »Was ist los? Hat dich was gestochen?«
»Nein,ich … Es … Ichliegenichtsogut …
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