Ausgeweidet (German Edition)
der Höhe der Grasnarbe blickt sie sich um, bevor sie über den kleinen Vorsprung den Waldweg erreicht. Sie zieht die Synthetikhaube vom Kopf, entledigt sich der Handschuhe, des Overalls, der Überzieher, packt alles zu den anderen Utensilien in die Plastiktüte und verstaut diese gut verknotet im Rucksack. Sie schultert das Gewehr und blickt nochmals auf den Toten. Schon hört man die ersten Schreie der Raben, ein langsam anschwellendes »Rab, Rab«.
Auf dem Weg zum Auto fallen erste größere Tropfen – der angekündigte heftige Regen. Kurz darauf gießt es in Strömen, als wenn eine Flutwelle Düsseldorf mit sich reißen wollte.
1.
Freitag früher Abend Zooviertel. Erika Wagner kehrt durchnässt in ihre Villa im Zooviertel zurück. Sie hat es gerade noch geschafft, ihr Auto zu erreichen, bevor der Regen niederprasselte. Völlig erledigt von der Anstrengung, die hinter ihr liegt, stößt sie die Haustür auf. Schon schlägt die antike Standuhr im Eingangsbereich die volle Stunde. Die pensionierte Lehrerin ist in Eile. Sie erwartet ihre zwei längsten und – sie gesteht es sich gern ein – besten Freundinnen zum wöchentlichen Canasta-Abend. Schnell hängt sie ihre Wachsjacke auf, legt den Rucksack ab und widmet sich dem Kamin im Wohnzimmer. Es ist zwar recht warm, aber ein Feuer in den Herbst- und Wintermonaten gehört zum Freundinnentreffen einfach dazu. Schon lodern die Flammen und verbreiten einen gemütlichen Schein in dem großzügig geschnittenen Raum. Erika schaut sich um. Es ist alles vorbereitet, der Champagner liegt kalt, und das Essen hat sie wie gewohnt beim Italiener bestellt.
Schnell schlüpft sie in einen roten Rollkragenpullover und eine elegante graue Wollhose. Kaum hat sie – an diesem Tag zum ersten Mal – ihr Lieblingsparfüm Chanel No. 22 aufgelegt, klingelt es. Hastig fährt sie sich mit den Fingern durch ihre kurz geschnittenen Locken und läuft die Treppe hinunter zur Haustür, fällt fast über ihre Füße und ist genervt, als es schon wieder klingelt. »Meine Güte, ich komme ja schon.«
Als Erste schiebt sich Irma Seidlitz resolut an Erika Wagner vorbei in die breite Diele. »Du warst auch schon mal schneller.« Die Angesprochene verdreht die Augen. Ja, ihre Freundin ist ein Jahr jünger, muss das ständig betonen und auch, dass sie gertenschlank ist. Dafür rackert sie sich dreimal in der Woche in einem Studio ab. Sie selber hält es da mit dem Grafenberger Wald, den kennt sie so gut wie kaum ein anderer.
Charlotte Prochnow hingegen, die gerade ihre Dauerwelle von einer Regenhaube befreit, ist klein und rundlich, und es ist ihr egal. Sie isst gern, was sie so fit hält wie Sport, und widmet sich ihrem liebsten Hobby: Sie ist steinreich.
Die drei sind Schulfreundinnen aus ehemals wohlhabenden schlesischen Familien, aufgewachsen in einem Ort in der Nähe von Görlitz, dann die Flucht, die Trennung. Nach dem Krieg suchten sie einander und fanden sich wieder. Wie der Zufall es wollte, hatte es sie alle ins Rheinland verschlagen.
Irma Seidlitz hatte nach dem Krieg in Düsseldorf eine kaufmännische Ausbildung absolviert und Karriere gemacht. Sie gehört zu den wenigen Frauen ihrer Generation, die eine Führungsposition in einem Unternehmen bekleideten. Privat lief es leider nicht so gut. Ab und an ein Geliebter, aber den Traummann sucht sie immer noch. Dafür hängt sie abgöttisch an ihren drei Katzen, was ihr immer wieder spitze Bemerkungen der Freundinnen einbringt.
Ganz anders Charlotte Prochnow. Sie heiratete nach dem Krieg einen Heimkehrer aus dem Rheinland, der bald an seiner Kriegsverletzung starb. Dann kam Mann Nr. 2. Und Nr. 3. Und schließlich Nr. 4. Alle gestorben. Seitdem sieht Charlotte alles immer schwarz und das Glas halb leer. Aber jedes Mal war das Erbe größer als das vorangegangene. Nun hat sie die Nase voll. Ein Freund, wenn es sich denn ergibt, ist in Ordnung, aber sie wird nie wieder den Bund der Ehe eingehen, denn sie ist davon überzeugt, dass sie ihren Ehemännern Unglück bringt.
Die Gastgeberin Erika Wagner ist wie Irma nie eine Ehe eingegangen. Stattdessen hatte sie über dreißig Jahre eine glückliche Beziehung zu einem verheirateten Mann. Er starb vor zwei Jahren, für sie ein schwerer Schlag, denn es war trotz aller Umstände eine sehr innige Beziehung gewesen. Ihre Arbeit als Lehrerin für Sport und Deutsch am Luisen-Gymnasium in der Carlstadt hat sie sehr ausgefüllt und dafür gesorgt, dass sie wie ihre Freundinnen gesund und fit ist. Gegen
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