Ausgeweidet (German Edition)
erzählen?«
Senta schaut ihn an. Ihr kommen die Tränen.
»Es war grauenhaft.« Sie wischt sich hastig übers Gesicht.
»Vielleicht war ich naiv. Aber ich hätte es mir nicht träumen lassen, dass der Strafverteidiger Marie so in die Enge treiben würde. Immer wieder die gleichen intimen Fragen, immer wieder anders formuliert, sodass Marie zum Schluss vollkommen durcheinander war. Selbst die Verfahrenspflegerin, deren Aufgabe es ist, die Kinder zu schützen, ist nicht eingeschritten.«
»Ich verstehe das nicht. Wie konnte es zu einem Freispruch kommen? Maries Aussagen sind doch eindeutig.«
»Ja, das sind sie auch. Aber man hat keine Rücksicht auf Maries Behinderung genommen. Das ist wohl von Gericht zu Gericht verschieden, und in Düsseldorf läuft es eben so.« Sie rührt in ihrem Cocktail.
»Weißt du, es hat unglaublich wehgetan, dabeisitzen zu müssen, während der Strafverteidiger Marie in die Mangel genommen hat. Und Marie, dieses Seelchen, hat seine Fragen vertrauensvoll beantwortet und gar nicht bemerkt, dass er sich über sie lustig macht. Strafverteidiger sind doch wirklich das Letzte.«
Behutsam reicht Pascal ihr ein Taschentuch.
»Und ausgerechnet ich habe ihr gesagt, dass sie vor Gericht die Wahrheit sagen muss und alles erzählen soll, was der Papa mit ihr gemacht hat. Als dann der Strafverteidiger sie gefragt hat: ›Sag mal, Marie, hat die Mama dir gesagt, dass du uns das alles hier erzählen sollst?‹, da hat Marie natürlich geantwortet: ›Ja, die Mama hat gesagt, dass ich das alles sagen soll.‹ Natürlich hat sie die Frage des Strafverteidigers anders verstanden.«
»Und was machst du jetzt?«
»Keine Ahnung. Ich hatte nur diese eine Chance. Immerhin habe ich es versucht. Jetzt muss ich mich bemühen, mein Leben wieder in den Griff zu bekommen. Und ich kann nur hoffen, dass Marie das alles verkraftet. Wie soll sie das verstehen, dass ihr Vater nicht zur Rechenschaft gezogen wird. Wenn ich bedenke, welche seelischen Schäden meine Tochter davongetragen hat! Ihr geht es mittlerweile viel besser, dennoch rastet sie immer mal wieder aus. Und dann die Schlafstörungen. Sie hat immer noch Angst vor der Dunkelheit und schläft deshalb bei Licht. Jeden Abend schaut sie nach, ob jemand unter dem Bett liegt oder sich im Kleiderschrank versteckt hat.«
Senta hält kurz inne und streicht sich eine Haarsträhne aus der Stirn.
»Dass er seiner gerechten Strafe entgeht, ist das eine. Aber es gibt dabei noch eine andere Dimension. Ein Freispruch bedeutet, dass die Opfer nicht als solche rechtlich anerkannt werden. Und das wiederum heißt: keinerlei finanzielle Unterstützung bei der Therapie. Und Marie muss noch jahrelang therapeutisch behandelt werden. Wie ich das alles schaffen soll, ist mir ein Rätsel.«
»Du hättest vielleicht doch das eine oder andere Angebot annehmen sollen, ihn fertigzumachen.« Pascals Stimme ist der Zorn deutlich anzuhören.
»Ich habe auch immer mal wieder daran gedacht. Aber im Grunde ist das nicht der richtige Weg. Dann hätten wir noch mehr Probleme. Ich möchte mich lieber um Marie kümmern und das Geld für ihre Behandlung verdienen. Deshalb bin ich dir dankbar für deine Unterstützung.«
Jetzt lächelt sie schon wieder. Diese innere Stärke, sich immer wieder auf das Positive zu besinnen, sich nicht unterkriegen zu lassen und dabei nicht ihren Humor zu verlieren, liebt Pascal an seiner Freundin.
»Die Liederabende und eventuell weitere Projekte, das ist es, worauf ich mich jetzt konzentrieren möchte. Das gibt mir so viel Rückhalt, ich kann dir gar nicht sagen, wie wichtig mir das ist.«
Pascal lächelt. »Dann lass uns mit vereinten Kräften den Erfolg vorantreiben. Deine Liederabende sind echt der Renner, und dass sogar die Generalprobe so gut angenommen wird, ist sensationell.«
Er prostet ihr zu. »Auf das Gute im Leben.«
Senta trinkt langsam, stellt das Glas leise ab und trocknet die letzten Tränen.
3.
Samstagmorgen Grafenberger Wald. Axel Nolte, rüstiger Rentner und gerne früh auf, dreht mit seinem Jack-Russell-Terrier Ronja die erste Runde im Grafenberger Wald. Nach dem orkanartigen Unwetter von gestern sind die sonst gut begehbaren Waldwege schlammig, und er muss achtgeben, wohin er tritt. Aber dafür ist die Luft klar und frisch.
Ronja ist gut erzogen und hat eine lange Ausbildung in der Hundeschule hinter sich. Axel Nolte lässt sie deshalb auch im Wald frei laufen. Ronja rennt los, kommt aber zwischendurch immer wieder zu ihm zurück,
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