Ausgeweidet (German Edition)
die altersbedingten Wehwehchen helfen Sekt und leckeres Essen. Außerdem ist sie vielseitig interessiert, ständig unterwegs, sie geht oft auf die Jagd, macht tägliche Spaziergänge und hat im Ruhestand mit Golfen angefangen. Doch das Leben der drei hätte sich nicht unterschiedlicher entwickeln können, nur in Sachen Disziplin, Durchsetzungskraft und Sturheit sind sie sich sehr ähnlich.
Die Freundinnen betreten das Wohnzimmer und setzen sich in ihre Lieblingssessel am Kamin. Jede hat ihren eigenen Platz, denn schon seit über vierzig Jahren spielen sie miteinander – komme, was da wolle –, nur ein Ballettabend in der Düsseldorfer Oper könnte sie davon abhalten. Außerdem behauptet Irma, dasssie auf diese Weise viel positive Energie angesammelt hat, die ihr beim Siegen hilft.
Heute ist ein besonderer Tag. Statt des üblichen Sekts zur Begrüßung präsentiert Erika Champagner. Charlotte, die ausschließlich Champagner trinkt und sich immer über Erikas Hausmarke beschwert, bemerkt in leicht gereiztem Ton:
»Es gibt ja wohl nichts zu feiern?«
Denn heute ist kein Tag der Freude.
»Wie man’s nimmt. Jetzt ist es immerhin vorbei«, antwortet Erika. Die Resignation in ihrer Stimme ist nicht zu überhören.
Sie alle wissen, worum es geht. Heute wurde am Düsseldorfer Landgericht das Urteil in einem Missbrauchsprozess gesprochen. Die Besonderheit: Das missbrauchte Kind Marie Hartmann ist geistig behindert. Erika war bei allen Verhandlungstagen im Gerichtssaal. Sie ist seit vielen Jahren mit der Familie Hartmann befreundet, auch mit der Mutter von Marie, Senta Hartmann, die als Nebenklägerin auftrat.
Wie zu erwarten war, wurde der angeklagte Vater nach der Maxime »Im Zweifel für den Angeklagten« freigesprochen. Der Missbrauch stand für viele außer Zweifel, aber der Beweis, dass der Vater der Täter war, konnte nicht ausreichend erbracht werden. Die Enttäuschung ist groß, auch wenn die drei Freundinnen ahnten und viel darüber diskutierten, dass das Verfahren so ausgehen würde.
»Ich verstehe das nicht«, ergreift schließlich Charlotte das Wort, »der Oberstaatsanwalt hätte doch nie ein Strafverfahren geführt, wenn er nicht eine Chance auf Verurteilung des Vaters gesehen hätte.«
»Wir waren anfangs ja auch sehr optimistisch«, erwidert Erika. »Es spricht alles dafür, dass er Marie missbraucht hat. Aber aufgrund ihrer Behinderung werden ihre Aussagen anders bewertet als Aussagen von Kindern ohne eine solche Behinderung. Das haben wir wohl alle unterschätzt.«
Irmas Augen blitzen auf. Heftig fuchtelt sie mit ihrer wie gewohnt viel zu beringten Hand vor Erikas Gesicht herum. Die reagiert prompt.
»Irma! Wie oft soll ich dir … !«
»Schon gut.« Irma zieht ihre Hand zurück.
»Was mich nur so ärgert, ist die Tatsache, dass Marie bereits mit vier untersucht wurde, und zwar kindergynäkologisch. Du hast uns ausführlich erklärt, was das bedeutet, und man hat damals – wie lange ist das jetzt her? –, na ja, man hat jedenfalls damals schon Verletzungen bei ihr festgestellt, im Genitalbereich.«
Erika nimmt einen kräftigen Schluck und setzt dann ihr Champagnerglas etwas unsanft auf dem gläsernen Beistelltisch ab.
»Und nie hat man Spermien oder sonst etwas gefunden, obwohl Marie mehrmals gesagt hat, dass ihr Vater sie missbraucht hat. Keine Beweise, keine Verurteilung. Dabei sind die Folgen des Missbrauchs nun wirklich mehr als deutlich. Das arme Kind! Diese ständigen Angstattacken, die Essstörungen – es ist einfach furchtbar! Und der Vater? Ist wieder frei, einfach so. Eine Schande ist das! Und dann dieser Strafverteidiger!« Erika hat sich in Wut geredet und ist kaum zu stoppen. Charlotte und Irma lassen sie gewähren, die Wut muss schließlich raus. »Hat dieser abgefeimte Mensch nichts anderes zu tun, als Marie Fangfragen zu stellen? Ständig die gleiche Frage, nur immer wieder anders formuliert. Führt Marie einfach so vor, und niemand greift ein.«
Irma schüttelt den Kopf. »Tolles Rechtssystem. Da hat ein geistig behinderter Mensch doch gar keine Chance auf Gerechtigkeit.«
»Und dabei ist die Dunkelziffer an Missbrauchsopfern unter geistig behinderten Menschen wesentlich größer als bei Gesunden. Stellt euch das mal vor, das ist doch grauenhaft.«
Für eine kurze Zeit ist nur das Knistern der Holzscheite zu hören. Die Freundinnen hängen ihren Gedanken nach. Es waren aufregende Wochen für sie.
Charlotte nimmt den Faden wieder auf. »Wie hat sich eigentlich der Vater
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