Ausgeweidet (German Edition)
von Marie heute verhalten?«
»Der hat völlig unbeteiligt dagesessen und keine Miene verzogen. Ich habe mich gefragt, ob er vielleicht irgendetwas eingenommen hat. Aber egal, der Mann hat doch sowieso kein Herz. Den lässt es doch vollkommen kalt, was er Marie angetan hat.«
»Schon nach den ersten Verhandlungstagen habe ich euch gesagt, das wird nichts«, ereifert sich Charlotte.
»Du siehst doch immer alles pessimistisch«, zischt Erika zurück. »Wir mussten es immerhin probieren.«
»Ich weiß, Erika«, erwidert Charlotte, »aber im Gegensatz zu dir ist der Preis, den Senta und Marie bezahlen, sehr hoch. Allein die emotionale Belastung während der Verhandlung.«
Doch bevor Erika etwas erwidern kann, versucht Irma, das Gespräch in ruhigere Bahnen zu lenken: »Wie hat Senta denn das Urteil aufgenommen?«
Erika seufzt: »Ihr ist alle Farbe aus dem Gesicht gewichen. Ich habe geglaubt, sie wird ohnmächtig oder bekommt einen Weinkrampf. Aber weder das eine noch das andere ist passiert. Sie ist einfach nur auf ihrem Stuhl zusammengesunken und wirkte wie abwesend.«
Erika hebt Aufmerksamkeit heischend die Hand.
»Aber wer hatte dafür einen großen Auftritt heute? Erinnert ihr euch noch an Sieglinde Frank, die früher Marie betreut hat? Eine alte Schulfreundin von Senta. Gut, sie ist manchmal etwas herb und direkt, aber dass sie vor allen Anwesenden aufsteht und Briest als pädophiles Schwein beschimpft, hätte ich ihr nicht zugetraut.«
»Was hat sie gesagt?«, fragt Charlotte aufgeregt nach.
»Im Wortlaut weiß ich es nicht mehr. Es war so etwas wie ›Du wirst dich jedenfalls nie wieder an Kindern vergreifen‹.«
Erika trinkt ihr Glas leer. Nach kurzer Pause erfolgt ihr Schlusswort, Irma und Charlotte kennen das von ihr. »Recht und Gerechtigkeit sind eben zwei verschiedene Paar Schuhe. Und es zeigt sich wieder einmal, dass das juristische Denken vollkommen konträr zum alltäglichen Rechtsempfinden ist. Doch Gott sei Dank gibt es ja eine höhere Gerechtigkeit. Auch dieser Herr Briest steht einmal vor seinem Schöpfer.«
Erstaunt schauen sich Irma und Charlotte an – das aus Erikas Mund, die nun wirklich keine Gläubige ist.
In diesem Moment klingelt es. Vittorio Bertoni, ein junger Aushilfskellner ihrer Lieblingstrattoria, bringt das Essen, pünktlich um zwanzig Uhr. Da die Canasta-Runde zu den festen Stammgästen des Italieners gehört, bespricht die jeweilige Gastgeberin zuvor stets mit dem Küchenchef das Menü, meist etwas Besonderes, das nicht auf der Karte der Trattoria Baccala in der Heinrichstraße steht. Heute gibt es Fischsuppe mit Baguette als Vorspeise, Perlhuhn auf Schalotten mit Nudelvariationen als Hauptgericht und als Nachtisch Mousse au chocolat, dazu einen Montepulciano.
Beim Essen wird das Thema fallen gelassen. Schon zu oft haben die Frauen darüber gesprochen. Um die latente Traurigkeit, die sich eingeschlichen hat und die auch das exzellente Essen nicht ganz vertreiben kann, in den Griff zu bekommen, ringen sie sich dazu durch, dennoch zu spielen. Die drei sind alles andere als oberflächlich, doch im Laufe der Jahre und vor dem Hintergrund dessen, was sie erleben und erleiden mussten, ist das Beiseiteschieben, das Ablenken, zu einer wohltuenden Verhaltensregel geworden.
Wie immer wird das Spiel hitzig, da keine von ihnen verlieren kann. Erika schummelt, was das Zeug hält, Irma stellt immer neue Regeln auf, und Charlotte fegt schon mal die Karten vom Tisch. Weit nach Mitternacht löst sich die Runde auf. Charlotte und Irma nehmen sich wie jedes Mal ein Taxi mit ihrer ganz persönlichen Chauffeurin. Sie ist Afrikanerin, groß und kräftig, und besitzt ein ausgesprochen humorvolles Gemüt, sodass die Fahrten mit ihr immer zu einem Erlebnis werden, vor allem wenn andere Verkehrsteilnehmer sich rücksichtslos verhalten; dann kann man durch Maria seinen Wortschatz ungemein erweitern. Sie ist selbstständige Taxi-Unternehmerin und hat einen kleinen Kreis von Stammkunden, für die sie jederzeit da ist, auch in Notfällen. Maria bringt die Damen nach Hause und begleitet sie jeweils bis zur Haustür. Wie immer, so auch diesmal, sind Irma und Charlotte beschwipst, das ist normal nach einem Canasta-Abend.
2.
Freitag früher Abend Petit Salon. Senta Hartmann schlüpft in das Kleid für die Generalprobe. Freitags und samstags tritt sie mit verschiedenen Liederabenden im Petit Salon in der Adersstraße auf. Ein Engagement, das ihr großen Spaß macht und ihr viel Selbstbestätigung
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