Ausländer
Nicht zu fassen, dass wir das nicht besprochen haben – einen Plan für den Notfall …«
»Haben wir eben nicht«, gab sie kurz angebunden zurück. »Also ist es sinnlos, darüber ein Wort zu verlieren.«
Sie blickte sich in alle Richtungen um.
»Falls sie verhaftet wurde, müssen wir damit rechnen, dass man auch nach uns sucht …«, sagte sie.
Peter nickte. Es stimmte. Und aus dem Bahnhof war bisher noch kein Polizist oder Soldat herausgekommen.
»Wir sitzen fest«, sagte Anna. »Wir haben keine Pässe, keine Reisegenehmigung, praktisch kein Geld. Was können wir tun?« Ula trug sämtliche Dokumente bei sich.
Ihr Geld reichte gerade noch für ein Getränk und ein belegtes Brot in einem Café.
»Wir brauchen nur auf einen Güterzug aufzuspringen, der nach Sassnitz fährt«, sagte Peter.
»Klar, so etwas mache ich ja ständig. Ein Kinderspiel«, erwiderte Anna.
Ihr Sarkasmus versetzte Peter einen Stich, aber er sagte nichts dazu. Stattdessen griff er über den Tisch, um ihre Hand zu drücken. »Ich habe viele Geschichten über Soldaten im Weltkrieg gelesen, die geflohen sind. Sie haben es geschafft, aus noch viel schlimmeren Situationen zu entkommen. Wir haben es schon bis hierher geschafft, ohne dass uns etwas zugestoßen ist. Wir können aufeinander aufpassen …«
Etwas Aufmunternderes fiel ihm nicht ein, dazu war er selbstzu müde. Fast schon rechnete er damit, dass sie ihm die Hand entziehen würde, aber sie tat es nicht.
Nachdem sie etwas gegessen hatten, fühlten sie sich ein wenig gestärkt. Anna bemühte sich verzweifelt, die Hoffnung nicht ganz aufzugeben. Sie machte einen Vorschlag. »Wenn wir uns eine Stelle südlich des Bahnhofs suchen, könnten wir versuchen, auf einen Zug zu springen, der bei der Einfahrt nach Stralsund abbremst.«
»Bei der Einfahrt in die Stadt gibt es auch eine Steigung«, sagte Peter. »An Steigungen werden alle Züge langsamer.«
Versteckt im hohen Gras neben den Gleisen beobachteten sie, dass die Züge dort tatsächlich an Geschwindigkeit verloren. Aber ihr Plan hatte einen Makel. »Wir müssen bis zur Dunkelheit warten«, sagte Anna. »Es ist zu gefährlich, wenn der Zug im Bahnhof hält und wir entdeckt werden.«
Die Dämmerung dauerte scheinbar eine Ewigkeit. Endlich wurde es Abend. Sie konnten an nichts anderes denken als an ihre momentane Lage. Von Zeit zu Zeit brach Anna in Tränen aus, und dann wurden auch Peters Augen feucht. »Ich muss immerzu daran denken, was sie Mutti womöglich antun«, sagte sie schluchzend.
Peter wünschte, sie hätten sich irgendwie ablenken können. Selbst Spazierengehen wäre besser gewesen als dieses untätige Warten.
In beiden Richtungen fuhren Züge an ihnen vorbei. Es war eine Hauptstrecke, mit einer Abzweigung nach Ribnitz und Rostock im Westen. Bevor es ganz dunkel war, fiel Peter auf, dass bei den Güterwaggons auf einer kleinen Tafel mit Kreide der Bestimmungsort geschrieben stand. Das würde ihnen helfen, den richtigen Zug zu wählen.
Kurz nachdem sie in der Ferne eine Kirchturmuhr zehn Uhr schlagen hörten, rollte ein Güterzug heran. Mit ihrem Gepäck in Händen versuchten sie mit dem Zug Schritt zu halten, doch das war schwierig. Da rief Anna über das Rattern der Räder hinweg: »Der fährt nach Lübeck!« Das lag weit entfernt im Westen.
Also liefen sie zurück, um sich wieder im Gras zu verstecken. »Wir lassen das Gepäck hier und stecken nur das, was wir wirklich brauchen, in unsere Mäntel«, entschied Peter.
Der nächste Zug kam gegen Mitternacht. Inzwischen hatte sich eine unangenehme Kühle über die Felder gelegt, und sie hatten sich aneinandergeschmiegt, um sich warmzuhalten. Dieses Mal hatten sie Glück. Hinter die Lokomotive waren verschiedene Waggons gespannt, darunter einige ohne Fracht, die oben offen waren. Und als Zielort war Sassnitz angegeben. Der Zug bremste, bis er nur noch Schritttempo fuhr, und Peter und Anna konnten mühelos nebenherlaufen und die kleine Leiter hochklettern, die an dem Waggon hing.
Nur eine Minute später passierten sie den Bahnhof. Sie fuhren unter der Fußgängerbrücke über den Bahngleisen durch, aber zu so später Stunde befanden sich im Bahnhof keine Reisenden mehr.
»Wenn wir richtig Glück haben, bringt uns der Zug geradewegs auf die Insel Rügen«, sagte Peter. »Dann sind wir am frühen Morgen in Sassnitz.«
Eine kalte Brise blies Kohlenstaub über den offenen Waggon. Peter hoffte, dass sie nicht allzu schmutzig würden. Das hätte sie sehr verdächtig
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