Ausländer
Prachtbauten, und zwei große Kirchen dominierten die Silhouette. »Stralsund ist eine alte Hansestadt«, erklärte Ula, als sie in sicherer Entfernung vom Bahnhof waren. »Hier gab es immer viel Geld.«
Dem Anblick der florierenden Läden und stattlichen Gebäude nach zu urteilen, war das immer noch der Fall. Schilder tauchten auf, die Richtung Strand wiesen, und ohne sich abzusprechen, beschlossen alle drei, den Weg dorthin einzuschlagen. »Hier würde einem nicht in den Sinn kommen, dass wir mitten im Krieg sind«, sagte Ula wehmütig. Stralsund lag kaum zweihundert Kilometer von Berlin entfernt, schien aber vom Krieg ganz unberührt zu sein.
Doch auch hier wehte auf den öffentlichen Gebäuden die Hakenkreuzfahne. Und wenn sie verhaftet würden, würde das auch in Stralsund Folter und Hinrichtung bedeuten. In Berlin hatten sie damit rechnen müssen, hier hingegen schien dergleichen völlig fehl am Platz.
Wie überall in der Stadt gab es auch am Hafen bemerkenswert alte Gebäude. Möwen segelten kreischend über ihren Köpfen, während sie am Kai standen und die Seeluft einatmeten. Direkt gegenüber der Stadt und mit dieser durch eine Brücke verbunden lag die Insel Rügen, die letzte Station auf ihrer Reise nach Schweden.
»Eigentlich sollte ich euch jetzt in ein nettes Restaurant einladen«, sagte Ula. »Aber ich will mich keinen gefährlichen Fragen mehr aussetzen. Hier gibt es sicher viele Leute, die Schwedisch sprechen. Schließlich ist Schweden nur einen Steinwurf entfernt. Also suchen wir uns lieber ein Hotel und lassen uns vom Zimmerservice etwas zu essen bringen.«
»Aber Mutti, das ist doch furchtbar teuer«, wandte Anna ein.
»Spielt keine Rolle«, erwiderte Ula. »Wir sind doch fast am Ziel. Nur noch eine kurze Zugfahrt und dann die Fähre. Ich denke, wir können etwas aus unserer Fluchtkasse erübrigen.«
Einen kurzen Fußweg vom Meer entfernt lag das Hotel Steigenberger. Es war ein großes, modernes Gebäude mit Hunderten von Zimmern. Die Art Hotel, in dem man sich anonym fühlen konnte. Ula mietete ein Zimmer und bestellte Schmorbraten und zum Nachtisch Apfelkuchen. Während sie auf das Essen warteten, wuschen sie im Badezimmer ihre Kleider und hängten sie zum Trocknen auf.
Wenig später brachte der Kellner die auf Silbertellern angerichteten Speisen auf einem Servierwagen herein. Er machte keine Anstalten, mit ihnen zu reden, und begnügte sich mit den nötigsten Höflichkeitsfloskeln.
Sie waren glücklich, wieder unverstellt miteinander reden zu können. Das Essen war ausgezeichnet, und es war schön, sich in Sicherheit zu fühlen.
»Wenn jetzt auch noch Otto hier wäre, wäre es fast perfekt«, sagte Ula. »Wir können nur beten, dass sie ihn nicht zu schlecht behandeln.«
Annas Augen füllten sich mit Tränen. »Sie werden ihn umbringen, oder?«
Davon war Ula überzeugt, aber sie wollte Anna nicht das Gefühl vermitteln, sie habe die Hoffnung schon ganz aufgegeben. So setzte sie sich neben ihre Tochter und legte den Arm um sie. »Bei der Gestapo geschehen merkwürdige Dinge«, sagte sie. »Manchmal werden die Leute gar nicht umgebracht, sondern in ein Lager gebracht. Und manchmal kommen sie sogar wieder nach Hause. Wir dürfen Otto nicht aufgeben.«
Peter stimmte mit ein. »Deine Mutter hat recht, Anna. Und dein Vater ist ein zäher alter Soldat. Er ist ihnen mehr als ebenbürtig.« Schon während er es sagte, merkte er, dass er dummes Zeug redete.
»Morgen, meine Lieben«, sagte Ula und versuchte dabei fröhlich zu klingen, »kaufen wir Fahrkarten nach Sassnitz, und morgen Abend sind wir in Trelleborg und haben es geschafft. Trinken wir darauf!«
Aufgemuntert schlug Anna vor: »Und trinken wir auch auf Stefan. Von ihm zumindest wissen wir, dass er in Sicherheit ist.«
Nur noch ein einziger Tag in Nazi-Deutschland. Dann würden sie frei sein.
Am nächsten Morgen machten sie sich in besserer Stimmung auf den Weg zum Bahnhof. Die Sonne schien ihnen warm ins Gesicht, und nach all dem Reisen und Schlafen in Eisenbahnwaggons war es angenehm gewesen, den Tag mit einem richtigen Frühstück und einer Dusche zu beginnen. Eugen Kleins Pässe und Dokumente hatten sich bisher als zuverlässig erwiesen, daher versicherte Ula den beiden, es gebe keinen Grund zur Sorge.
Als sie jedoch die Straße erreichten, die zum Bahnhof führte, sahen sie eine lange Schlange vor dem Eingang stehen. »Sie haben anscheinend einen Kontrollpunkt eingerichtet«, sagte Anna. »Fragt sich nur, ob das immer so
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