Ausländer
krieche nach vorn.« Sie nickte, und er schlängelte sich vorwärts. Sofort erkannte sie, dass er den Kopf zu weit hob, und streckte schützend die Hand aus, um ihn hinunterzudrücken. Da verfing sich sein Mantelärmel unter dem Rand eines Rads. Einen Moment lang zog es seinen Ärmel so straff und schmerzhaft zusammen, dass ihm bewusst wurde, was ein solches Rad mit seinem Gewicht einem menschlichen Körper zufügen konnte. Im nächsten Augenblick verfehlte eine Achse nur um Haaresbreite seinen Kopf.
»Was zum Teufel machst du da?«, zischte er. »Ich habe fast meinen Arm verloren.«
»Und den Kopf auch beinah«, rief sie über das Rasseln und Quietschen hinweg.
Zentimeterweise schob er sich vorwärts. Eine der Ketten schlug ihm gegen die Stirn und zerbrach seine Brille, dann traf sie ihn am Rücken.
Der Zug blieb stehen. »Verschwinden wir«, sagte Peter drängend. »Gehen wir einfach davon. Vielleicht fallen wir ja niemandem auf.«
Anna überlegte kurz. »Vielleicht fällst du niemandem auf, Peter. Aber ich habe ein Kleid an.«
»Ohne dich gehe ich nicht«, erwiderte er. »Außerdem ist es finster genug. Du wirst einfach nur ein Schattenriss sein. Geh du zuerst. Und warte auf mich am Turm dort drüben bei den Büschen.«
»Peter, ich …«
Ihr Flüstern ging im dem Quietschen der Waggons unter. Jetzt bewegte sich der Zug wieder langsam rückwärts. Obwohl es ein langer Zug war, kam die Lok rasch näher. Sie hörten nicht nur, wie ihr Schnaufen immer lauter wurde; als Peter nach vorn schaute, sah er auch Dampf aus den Zylindern zwischen den Rädern quellen und sogar das Glimmen der Feuerbüchse. Noch schlimmer war, dass die Lok mit einem Schienenräumer ausgestattet war.
Fuhr dieser über sie hinweg, würden sie beide schrecklich verstümmelt.
»Anna, wir werden hier gleich zerquetscht!«, rief er nach hinten. »Wir müssen irgendwie zwischen den Rädern rauskommen.«
Zwischen den einzelnen Waggonrädern gab es immer eine Lücke von drei oder vier Sekunden – vielleicht reichte das, um sich über die Schiene zu rollen, ohne zerstückelt zu werden.
Die Lokomotive kam immer näher. »Du musst ganz schnell sein«, sagte Peter. Er fürchtete, Anna könnte vor Angst wie gelähmt sein, aber als er den Kopf wandte, sah er die Entschlossenheit in ihrem Gesicht. Eine Kette traf ihn am Nacken. Er zuckte zusammen und klammerte sich instinktiv an die Schiene. Im allerletzten Moment, bevor das Rad über seine Hand fuhr, zog er sie zurück.
Als er sich wieder umblickte, war Anna verschwunden. Jetzt war er an der Reihe. Er schob sich so nah an die Schiene wie er sich traute. Ein Waggon rollte vorbei, dann noch einer. Er nahm seinen ganzen Mut zusammen und dachte Jetzt oder nie …, aber der nächste Wagen war der Kohlentender, dessen Räder zu dicht beieinander standen. Die Lok selbst war schon fast über ihm. Peter grub sein Gesicht in den Schotter und wartete auf die grauenhaften Schmerzen, die er gleich spüren würde.
Kapitel achtunddreißig
Sassnitz
12. August 1943
Die nächsten fünf, sechs Sekunden kamen ihm vor wie eine Ewigkeit. Ein Quietschen und Knirschen dröhnte ihm in den Ohren, Metallketten schlugen gegen seinen Körper, am Kopf spürte er sengende Hitze. Er wollte schreien, aber jeder Laut erstickte in seiner Kehle. Da veränderte sich das Geräusch. Das Quietschen erreichte seinen Höhepunkt und ebbte schließlich ab. Der Dampf puffte und heulte immer noch, und er spürte seine Hitze auf Nacken und Handrücken. Aber der Zug war zum Stehen gekommen. Und Peter lebte noch.
Er lag direkt unter dem Kohlentender. Über ihm befanden sich drei einander überlappende Eisenplatten, die den Führerstand mit dem Tender verbanden. Durch die Lücken dazwischen konnte er das rote Glühen der Feuerbüchse und ein Paar Stiefel erkennen, die wohl dem Lokführer gehörten.
Instinktiv schlängelte er sich rückwärts bis zu der Lücke zwischen Tender und erstem Waggon. Ohne innezuhalten oder sich umzusehen, wand er seinen Körper zwischen den Rädern hindurch und ging dann Richtung Turm davon. Was auch geschah, er würde nicht stehen bleiben, bis er dort angekommen war. Alles war besser, als von einem Zug zermalmt zu werden – sogar, von einer Wache erschossen zu werden.
Die Versuchung sofort loszulaufen war riesengroß, doch erwusste, dass ein rennender Mensch Aufmerksamkeit erregt hätte. Das Rangiergelände war voller Männer, die ihren Arbeiten nachgingen. Und sie alle bewegten sich in normalem
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