Ausländer
unerträglich, doch sie wagten nicht, in die Stadt zu gehen. Sie würden es einfach aushalten müssen. Vor ihnen glitzerte das Meer. Sie sahen dem An- und Ablegen der Fähren zu und wussten, dass hinter demblauen Horizont ein Land lag, in dem keine Hakenkreuzfahnen an den Gebäuden flatterten. »Wenn wir es auf eine Fähre schaffen, sind wir in etwa vier Stunden dort«, sagte Peter.
Vier Stunden. Das war ein Unterrichtsmorgen in der Schule oder ein Nachmittagsausflug in den Park. Und jetzt eine Sache auf Leben und Tod.
Ebenso quälend langsam wurde es Abend. Den ganzen Tag über waren Lastwagen abgefahren und angekommen, aber auf der Straße unter ihnen wartete immer noch eine Schlange.
»Sieh mal, da ist einer, bei dem sich die Plane gelöst hat«, sagte Anna. Bei den meisten anderen Lastern waren die Abdeckungen festgezurrt.
Sie schlichen sich zur Straße hinunter. »Wie sollen wir bloß da reinkommen, ohne gesehen zu werden?«, fragte Peter.
Anna zuckte die Achseln. »Wir müssen eben Geduld haben.«
Sie warteten eine weitere Stunde. Es war eine Tortur. »Wenn der Fahrer aussteigt, um seine Ladung zu kontrollieren, ist es zu spät«, sagte Peter warnend.
»Ich habe mehr Sorge, dass die Schlange sich weiterbewegt, bevor wir drin sind«, erwiderte Anna.
Spät am Abend stieg der Fahrer des Lastwagens, der unmittelbar hinter dem mit der losen Plane stand, aus und schlenderte zu einem Kollegen herüber. Anna war eingenickt. Peter rüttelte sie wach. »Jetzt, das ist unsere Chance …«
Sie krochen aus dem Schatten und hievten sich auf die Ladefläche. Unter der Plane befanden sich Holzkisten voller Flaschen mit Chemikalien. Deren Gestank setzte sich in ihren ausgedörrten Kehlen fest, und es war fast unmöglich, den Hustenreiz zuunterdrücken. Aber wenigstens war zwischen den Kisten Platz genug, um sich hinzusetzen.
Der Moment war gut gewählt gewesen, denn ein paar Minuten später hörten sie Rufe. »Jetzt können sie auf die Fähre«, flüsterte Peter. Sein Mund war so trocken, dass ihm das Sprechen schwerfiel. Der Motor wurde angelassen, und dann stieg der Fahrer noch mal aus, um die Fracht zu kontrollieren.
Sie hörten ihn fluchen und zu sich selbst sagen »Wie konnte das denn passieren?«, als er die lose Plane entdeckte. Dann hörten sie die Schritte seiner Stiefel neben dem Wagen. Anna drückte fest Peters Hand.
Aus der Ferne rief eine andere Stimme: »Schnell, Dolf, wir sind gleich dran!«
Der Mann fluchte erneut. Die Plane über ihren Köpfen wurde festgezurrt, dann konnten sie hören, wie der Fahrer das Spannseil an den Halterungen rund um die Ladefläche befestigte.
Anschließend setzte sich der Laster in Bewegung. Peter und Anna wurden von den unterschiedlichsten Geräuschen überflutet. Was jeweils genau vor sich ging, war nicht schwer zu erraten. Erst bewegte sich der Lastwagen im Schneckentempo voran und hielt alle paar Meter wieder. Das dauerte ewig. Dann war eine Unterhaltung zu hören, übertönt vom Nageln des Dieselmotors. Sicher ein Kontrollposten. Der Lastwagen rollte schließlich weiter und nahm sogar ein wenig Fahrt auf. Sie wurden durchgerüttelt, und die Kisten drückten mit ihrem Gewicht gegen sie. Dann ein Rumpeln und Ruckeln, als der Laster eine Rampe hinauffuhr. Mit einem Mal klang das Motorengeräusch ganz anders. Sie waren aus dem Freien in eine Metallkammer gefahren. Wieder Rufe, als der Lastwagen in die Parkposition manövriert wurde.
Dann erstarb der Motor. Der Fahrer stieg aus und schlug die Tür zu. Schließlich wurde es ruhig auf dem Ladedeck, und nun hieß es wieder warten. »Ich muss hier raus«, sagte Anna. »Ich glaube, mir wird schlecht. Und ich sterbe vor Durst. Wir haben doch noch genug Geld, um uns etwas zu trinken zu kaufen, oder?«
Sie spähten durch eine Ritze in der Plane. »Es ist eine große Fähre«, sagte Peter. »Bestimmt gibt es ein Café oder einen Speisesaal …« Dann jedoch kamen ihm Bedenken. »Aber wenn wir erst mal hier draußen sind, werden wir wohl nicht so leicht wieder reinkommen.«
Anna nickte. Vor Durst konnte sie kaum sprechen.
»Nur noch ein paar Stunden«, sagte Peter tröstend.
Zwanzig Minuten später hörten sie das dumpfe Stampfen des Schiffsmotors. Beim Auslaufen aus dem Hafen schien die ganze Fähre zu beben. Die Kisten vibrierten so sehr, dass Anna und Peter Angst hatten, die Glasflaschen könnten zerbrechen. »Ich muss hier raus«, sagte Anna. »Wir sehen nicht allzu verwahrlost aus. Man könnte uns für ein Paar halten,
Weitere Kostenlose Bücher