Ausnahmezustand
unsere Seite ziehen. Wir müssen zeigen: Frieden ist möglich!
Zu den Paradoxien Srinagars gehört, daß es leichter ist, die Führer des Widerstands zu treffen als Politiker in Amt und Würden oder gar Vertreter des Militärs. Man klingelt einfach, und manchmal ist es der Führer selbst, der die Tür öffnet zu seinem Haus, das, bescheidender zwar, dafür ihm selbst gehört. Noch verwirrender ist allerdings, daß die Widerständler im Prinzip genau das gleiche verlangen wie die Regierungspolitiker: Autonomie, offene Grenzen, Rückzug der Armee – nichts anderes skizziert der Hodschatoleslam Abbas Ansari als Lösung.
Als Führer der schiitischen Minderheit gehört der Geistliche zu den Sprechern der Hurriyat-Konferenz, der Dachorganisation der verschiedenen Widerstandsgruppen. Die Anglistin meinte gestern auch Politiker wie ihn, wenn sie vor Islamisten warnte; er selbst versichert, die Theokratie abzulehnen. Die Fersen im Schneidersitz bis an die Beckenknochen hochgezogen, ein verschmitztes Lachen unter dem weißen Turban, bewegt er ohne Unterlaß die Hände, als begänne gleich etwas Spannendes, ein Spiel oder eine Partie, ein Coup oder eine Revolution. Vielleicht weil das Gespräch auf Persisch stattfindet, schildert er in erstaunlicher Offenheit die Streitigkeiten innerhalb des Widerstands. Alle wüßten, daß der bewaffneteKampf vorbei sei. Man müsse verhandeln, um vielleicht nicht bei den nächsten, dann aber bei den übernächsten Wahlen anzutreten. Die Extremisten seien gar nicht so extrem, sondern nur beleidigt, daß niemand sie an den Tisch gebeten habe. Mach sie zum Minister, und du hast sie auf deiner Seite.
– Die Menschen sagen, daß sie von ihren Führern verkauft worden sind, bemerke ich und betone: von allen Führern.
– Die Menschen haben recht, erwidert Ansari.
– Das bedeutet, daß sie auch von Ihnen verkauft worden sind.
– Ja.
– Es heißt, daß die Führer des Widerstands das Geld von beiden Seiten empfangen haben.
– Stimmt. Wir Führer Kaschmirs haben alle miteinander versagt.
– Sie auch? frage ich.
Da schaut der Geistliche zur Decke, als überlasse er die Antwort Gott.
Wenn in Palästina und Israel eine knappe Mehrheit weiß, worauf der Frieden hinausläuft, wissen es in diesem Konflikt alle Beteiligten, die Menschen, die Politiker, die Soldaten, das Ausland – aber geschehen ist seit Jahren nichts, es gibt keine weiteren Gespräche, keine Friedenskonferenzen, seit der neuen indisch-amerikanischen Allianz auch keinen internationalen Druck mehr auf Delhi und Islamabad. Das war in den neunziger Jahren anders, als der damalige amerikanische Präsident Bill Clinton Kaschmir wegen der indischen und pakistanischen Atombomben den gefährlichsten Konflikt der Welt nannte. Heute ist Indien außenpolitisch zu stark, um Kompromisse eingehen zu müssen, und die pakistanische Regierung innenpolitisch zu schwach, um welche eingehen zu können. So reduziert sich der Frieden bisher auf einen Bus, der einmal die Woche zwischen dem indischen und dem pakistanischen Teil Kaschmirs verkehrt.
Schließlich treffe ich doch noch einen Führer, der am bewaffneten Kampf und dem Ziel eines islamischen Staates festhält. Zufall oder nicht – Seyyid Geelani ist mit Abstand der charismatischste Politiker,den Kaschmir zu bieten hat, ein alter, eleganter Mann mit schneeweißem Bart, die Wangen und bis auf einen dünnen Streifen auch die Oberlippe rasiert. Mit der viereckigen Stoffmütze erscheint das Gesicht noch schmaler. Müde Augen, leise Stimme, gutes Englisch, klare Artikulation. Zwei Tage zuvor wurde er mit Gewalt daran gehindert, das Freitagsgebet zu leiten – nicht etwa von der Armee, sondern von Kaschmiris, genau gesagt von den Anhängern einer rivalisierenden Widerstandsgruppe, die von der Forderung nach einem Plebiszit abgerückt ist. Vielleicht weil ihm die Demütigung noch in den Knochen steckt, umarmt er mich, der ich als Berichterstatter dennoch nach seiner Meinung frage, ein paar Sekunden länger als üblich und still. Als er meint, mich frieren zu sehen, bringt er mir, obwohl er einen Diener rufen könnte, aus dem Nebenraum eigenhändig eine schwere Wolldecke, sich selbst ebenfalls. So sitzen wir uns eingemummelt gegenüber.
Ich verstehe Seyyed Geelanis Standpunkt völlig, den Wunsch nach Selbstbestimmung, den er gut begründet, mit gleichbleibender Ruhe und Bestimmtheit. Ausführlich schildert er die Greueltaten der indischen Armee, insbesondere die Vergewaltigungen, die
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