Ausnahmezustand
ihre Blicke, verstört, scheu, ängstlich und doch dankbar dem Leben, daß sie es behalten haben. Hinter Maria die Prozession der übrigen Flüchtlinge, erst die Frauen, junge Mädchen die meisten, viel zierlicher als Europäerinnen oder die Zentralafrikanerinnen im Lager, dann die Männer, ebenfalls schmächtig, die ihre ersten Schritte so behutsam auf die Erde setzen, als sei es das erste Mal. Und wirklich ist es ja wie eine Neugeburt für sie. Ich will sie begrüßen, auf Arabisch
Friede sei mit euch
rufen oder ihnen wenigstens zulächeln, aber weil niemand es tut, traue ich mich nicht, und so wanken sie ohne jeden Kommentar der Umstehenden, ohne Begrüßung oder Bekundungen der Freude, einer nach dem anderen aus dem Schiffsbauch hervor, wanken an der Hand der französischen Soldaten die paar Meter übers Deck und werden von italienischen Soldaten, die an der Mole warten, über die Brücke an Land geleitet und in denBus gesetzt, um auf den Matratzen aus Isoliermaterial und dem Bettzeug aus Papier gründlich auszuschlafen. Ich zittere, so ergriffen bin ich, das Leben zu sehen, das nackte Leben wie bei einer Geburt oder beim Sterben, das Leben, als was es ist: ein Geschenk.
Mit oder ohne Zustimmung
Als die Flüchtlinge schon abgefahren sind, unterhalte ich mich mit dem Kapitän, der eigens für mich von Bord kommt.
– Gratulation, ist das erste, was ich sage, ich gratuliere Ihnen herzlich!
– Warum? lächelt der Kapitän, ein großgewachsener, sportlicher Mann von vielleicht vierzig Jahren mit Bürstenhaarschnitt bei beginnender Glatze, und weiß doch sofort, was ich meine. Ihm wenigstens ist die Freude anzumerken.
Ich erfahre, wie die Flüchtlinge entdeckt wurden, dichtgedrängt auf einem kleinen Holzboot, nein, nicht im Sturm, da wäre es zu spät gewesen, sondern kurz davor, als Sterne am Himmel waren.
– Wie haben die Flüchtlinge reagiert, als sie Ihr Schiff gesehen haben?
– Sie haben diskutiert, als wir sie anleuchteten, einige freuten sich und winkten, andere hatten Angst und schienen für Flucht zu plädieren. Mit unseren Beibooten versperrten wir ihnen den Weg. Als wir ihnen sagten, daß wir sie nicht nach Libyen zurückbringen würden, ja, da haben sich alle gefreut, da brach Jubel aus. Kurz danach zogen sich die Wolken zusammen, da wurden sie plötzlich ganz still, und als das Gewitter losbrach, wurde ihnen klar, wie knapp sie dem Tod entronnen waren.
– Wie ist es mit anderen Flüchtlingen, die heute nacht auf Booten unterwegs waren? frage ich: Gibt es eine Chance, daß jemand den Sturm überlebt hat?
Der Kapitän denkt nach und sagt dann:
– Null Prozent.
Als ich nach FRONTEX frage, bricht es beinahe aus ihm heraus:
–Wenn ich ein Holzboot mit fünfundsechzig Menschen auf dem offenen Meer sehe, dann ist mir FRONTEX scheißegal, dann denke ich nicht an Immigration, an Papiere, an Zollbehörden. Dann rette ich sie, verdammt noch mal.
Für ihn als Kapitän, fährt er fort, um seinem kleinen Ausbruch eine Erklärung nachzuschicken, stehe das Seerecht über etwaigen Verordnungen der Europäischen Union, er dürfe also gar nicht anders handeln.
– Sieht das jeder Kapitän so?
Der Kapitän weiß sofort, auf welche Aussagen ich anspiele.
– Ich bin mir sicher, sagt der Kapitän, daß jedenfalls alle französischen Kapitäne genauso gehandelt hätten, außerdem hatte ich die Zustimmung meiner Einsatzleitung.
Ich bin sicher, daß der Kapitän genauso gehandelt hätte auch ohne die Zustimmung seiner Einsatzleitung.
Kairo, Oktober 2012
Wo warst Du denn so lange? fragt der Mu‘allim, wie alle den Oberkellner nennen, der «Lehrer», wo warst Du denn so lange?, und scheint den deutschen Wohnort nicht als Erklärung zu akzeptieren: Hättest du nicht dennoch mal vorbeischauen können? Achtundsiebzig ist er inzwischen, arbeitet immer noch vierundzwanzig Stunden am Stück, wenn er im Teehaus Schicht hat, ein Tag Pause, dann wieder vierundzwanzig Stunden. Die Frage, wie er das durchhält, stellte sich mir bei jedem Besuch banger, zumal der Lehrer schon zum Schichtbeginn aussieht, als habe er vierundzwanzig Stunden nicht geschlafen, die Augenlider halb geschlossen, der große, schlanke Körper in der graublauen Galabiyya immer leicht gebeugt, die Plastikpantoffeln so vernehmbar über den Boden schlurfend, als solle keiner von den Gästen je vergessen, daß einer schuftet, damit sie sich bei Wasserpfeife und Kartenspielen vergnügen. Oder soll das Schlurfen nur die große Um Kulthum untermalen,
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