Ausnahmezustand
die aus Lautsprechern, die auch schon achtundsiebzigjährig klingen, immer noch von «jenen Tagen» singt? Kraftlos jedenfalls kann der Lehrer nicht sein, der seine Anweisungen noch am Schichtende so laut und schneidend ausruft, als müsse er die Unterkellner aus dem Tiefschlaf wecken. Und dann die Haare, die achtundsiebzigjährig noch nicht grau sind, die beinah glatte Stirn und sein Grinsen eines Lausbuben, wenn er mich zu Schnaps und Haschisch nach Hause einlädt, wo er zwischen den Schichten selbst das Leben genießt. Nein, ich glaube, die Müdigkeit gehört für den Lehrer zum Berufsbild und ist in Wirklichkeit oder jedenfalls zu Schichtbeginn gar keine Müdigkeit, sondern die notwendige Gelassenheit, um alle Aufregung zu ignorieren, aller Veränderung zu widerstehen. Es gibt keine Institution in Kairo, die beständiger, gleichmütiger, vom Fortschrittweniger beeindruckt ist als das Teehaus. Eine Stadt, an deren Rand Pyramiden stehen, braucht auch in ihrer Mitte Orte, an denen seit jeher alles ist wie in «jenen Tagen».
–
Und was ist mit der Revolution? frage ich.
Ach, die Revolution, murmelt der Lehrer und hebt eines seiner Augenlider, als sei mit einem durchdringenden Blick alles schon gesagt.
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Warst Du denn nicht auf dem Tahrir? hake ich dennoch nach und zeige auf die revolutionären, aber auch anti-islamistischen Aufkleber, die an den Fensterscheiben des Teehauses kleben, «Die Religion für Gott, das Vaterland für alle.»
–
Auf dem Tahrir waren nur die Jugendlichen, sagt der Lehrer und meint damit die Unterkellner, die auch schon über dreißig sind.
Natürlich sei er froh, daß der Diktator gestürzt ist, sieht nur in der Revolution nicht die Lösung der dringlichsten Probleme, der Armut vor allem. Im Gegenteil sei die Wirtschaft mehr oder weniger zusammengebrochen, das öffentliche Leben seither schlafend.
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Kairo kann überhaupt nicht schlafen, rufe ich.
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Das stimmt, schmunzelt der Lehrer und läßt beide Lider sinken, als wolle er mir das Gegenteil beweisen.
Als er sie zwei Sekunden später wieder öffnet, meint er, daß diese Jugendlichen – gemeint scheinen wieder die Unterkellner – geglaubt hätten, so eine Revolution gelänge an einem Tag. So sei das natürlich nicht, daran habe er auch nie geglaubt. Gleichwohl sei es schon erstaunlich – und daran habe zugegeben er nie geglaubt –, daß aus dem Präsidenten ein Häftling und aus einem Häftling ein Präsident werden könne. Wenn je wieder ein Präsident nicht abtreten wolle, müsse er fortan mit den Jugendlichen rechnen.
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Es werden die Dinge sich nicht ändern, es sei denn, die Menschen ändern sie, zitiert der Lehrer einen Koranvers, der für alle Orte offenbart wurde außer fürs Teehaus.
Dann steht er wieder auf und ruft seine Anweisungen so laut und schneidend, als müsse er die Unterkellner aus dem Tiefschlaf wecken.
Editorische Notiz
Die Reportagen dieses Buches sind zunächst, in sehr viel kürzeren Fassungen, als Zeitungstexte erschienen, und zwar in der
Neuen Zürcher Zeitung
(Afghanistan I), der
Süddeutschen Zeitung
(Pakistan), der
tageszeitung
(Palästina) und der
Zeit
(alle übrigen Kapitel). Den Redaktionen und auch den Archiven der genannten Zeitungen, insbesondere der
Zeit
und meinem Redakteur Jan Roß, danke ich für die Ermutigung, die Unterstützung und den Rat. Danken möchte ich außerdem den Goethe-Instituten in Ramallah, Jerusalem, Karatschi und Kairo, dem Goethe-Zentrum in Lahore sowie der Konrad-Adenauer-Stiftung in Kairo, die mich zu Lesungen und Vorträgen eingeladen haben. Alle übrigen Reisen habe ich im Auftrag der Zeitungen unternommen.
Die Reiseberichte, die zwischen 2006 und 2009 entstanden, sind in den Roman
Dein Name
eingegangen (Carl Hanser Verlag, München 2011).
Meinem Lektor Ulrich Nolte vom Verlag C.H.Beck danke ich für die langjährige, auch bei diesem Buch wieder hervorragende Zusammenarbeit.
1. Auflage. 2013
© Verlag C.H.Beck oHG, München 2013
Umschlaggestaltung: Anzinger | Wüschner | Rasp, München
Umschlagabbildung: Flüchtlinge aus dem Hungergebiet. Herat. Afghanistan 2001. Foto: Daniel Schwartz, © VG Bild-Kunst, Bonn 2012
ISBN Buch 978 3 406 64664 5
ISBN eBook 978 3 406 64665 2
Die gedruckte Ausgabe dieses Titels erhalten Sie im Buchhandel sowie versandkostenfrei auf unserer Website
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