Ausnahmezustand
die Ärzte ohne Grenzen auf Lampedusa dieses Jahr in Empfang genommen, bereits 19 820 Menschen allein bis September plus die neun Tunesier von heute, aber im Dorf sieht man von ihnen nichts. Ihr Lager, ein, zwei Kilometer außerhalb hinter einem Hügel, ist auf keiner Karte verzeichnet, durch kein Schild ausgewiesen und nur mit Sondergenehmigung zu betreten, die zu erlangen man sämtliche Fragen eine Woche im voraus schriftlich einreichen muß. Nur am Hafen könnte man einen Blick auf die Flüchtlinge werfen, in der kurzen Spanne zwischen Landung und Abtransport, doch nur vom Hügel aus, der sich über dem Ort erhebt, da vor der Mole selbst Betonklötze die Sicht versperren. Wie gesagt, das Tor ist offen, jeder könnte zur Anlegestelle schlendern, doch das tun nur Berichterstatter wie ich, die sich Lampedusa als wer weiß welches Inferno vorgestellt haben. Wie die Ärzte ohne Grenzen erzählen, war es früher möglich, aus dem Lager hinauszuspazieren, der Stacheldraht hatte einige Löcher, aber was sollten die Flüchtlinge schon ohne Geld auf einer Insel unternehmen, auf der sie nicht einmal untertauchen konnten? Einmal hatten sich drei, vier Schwarze im Dorf umgesehen und sogar ein Bier bestellt, ohne es bezahlen zu können, da setzte der Bürgermeister die Meldung in die Welt, die Flüchtlinge lungerten in den Bars herum, würden sich kostenlos betrinken und die Touristen anpöbeln. Glaubt man ihm, geht die Insel gerade unter. Tatsächlich, so erzählen fast alle Menschen, mit denen ich ins Gespräch komme, bemerken sie kaum etwas von den Flüchtlingen.Wer seinen Urlaub in Lampedusa verbringt, interessiert sich nicht für Sehenswürdigkeiten, eine schmucke Altstadt oder schöne Landschaften, die es ohnehin nicht gibt. Er kommt wegen des Meeres. Er will sonnenbaden, schwimmen oder tauchen, zumal wenn es anderswo in Italien dafür zu kalt geworden ist. Keine Realität hindert ihn daran.
Für mich als Berichterstatter ist es anders. Werde ich normalerweise von Eindrücken erschlagen, warte ich hier wie ein Angler auf das Eintreffen von Flüchtlingen, um in der kurzen Zeit bis zu ihrem Abtransport überhaupt einen anderen Eindruck zu bekommen als den eines Urlaubsortes. Auf der ganzen Welt haben die Reichen ihre Methoden verfeinert, mit denen sie die Wirklichkeit aussperren, haben Zäune gebaut, Mauern, Feindbilder, um das Elend nur ja nicht zu sehen, aber daß es ihnen sogar auf Lampedusa gelingt, bei 19 820 Flüchtlingen allein in diesem Jahr und einer Bevölkerung von fünftausend, stellt jede
gated community
in den Schatten. Nicht, daß sie kein Thema wären. O ja, mit ihnen als Thema, fast nur mit ihnen, hat der Bürgermeister die letzte Wahl gewonnen. Das Krankenhaus ist vorher schon nicht gebaut worden, aber jetzt wird es nicht gebaut, weil die medizinische Versorgung den Flüchtlingen vorbehalten ist. So wie die Regierung in Rom die Armee in die Städte geschickt hat, die zu den sichersten der Welt gehören. So wie sie den Notstand ausgerufen hat nicht bloß auf Lampedusa, ach was, nicht bloß im Süden, sondern wenn schon im ganzen Land. Wohlgemerkt: Nicht die Flüchtlinge sind in Not, sondern das Land. Es ist ein freundlicher Menschenschlag hier, ihre Gelassenheit spürt man sofort, wenn man aus der Hauptstadt eintrifft. Bestimmt hat niemand etwas gegen die Afrikaner, Araber und Asiaten, nicht einmal der Bürgermeister, der die Gründe ihrer Flucht zu verstehen behauptet. Man will sie nur nicht bei sich haben, nicht so viele jedenfalls, daß sie nicht mehr als Gäste durchgehen, nicht vor der eigenen Haustür – wie anderswo das Atomkraftwerk. Daß man sie gar nicht sieht, reicht nicht. Unsichtbar werden sie erst recht zu Geistern.
Mitternacht
Im Hafen beginnt das große Feuerwerk. Vom Aufnahmelager aus wird man nur den Himmel glühen sehen und blitzen. Man wird die Explosionen hören. Wer vor dem Krieg floh, wird meinen, zurückgekehrt zu sein. Auf dem Meer werden die Raketen zu Ehren der Heiligen Jungfrau den Weg leuchten. Wäre es nicht ein Freudenfest, daß sie die Reise überlebt haben?
Wie aus dem Nichts setzt eine Stunde später starker Regen ein. Sind jetzt wirklich Boote auf dem Meer, wie die Zollbeamten vermutet haben, und erreichen sie dennoch die Mole, werden die Ärzte ohne Grenzen alle Hände voll zu tun haben. Ich kann nicht mehr schlafen, ich könnte hier auch keinen Urlaub machen, ich merke, ich genieße nicht einmal das herrliche Meer. Der Bürgermeister hat recht, die Insel ist
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