Ausnahmezustand
sie ein wenig
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Wir lieben das Leben, wo wir nur können
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DAS LEBEN, ALS WAS ES IST
Lampedusa, September 2008
Sonntagsausflügler
Die Tür am Eisengitter, das die Mole absperren soll, ist nur angelehnt. Der Zollbeamte, der mich fortschicken will, weil ich keine Genehmigung habe, begnügt sich nach einem kurzen Wortwechsel damit, daß ich zwei, drei Meter zurückgehe. Heute haben sie offiziellen Besuch, erklärt der Beamte beinah entschuldigend und nickt in Richtung der beiden Herren in dunklen Anzügen. Die jungen Araber, die auf dem Boden hocken, sind die ersten Bootsflüchtlinge nach Tagen, in denen die See stürmisch war, wahrscheinlich die Vorhut, weil schneller als die anderen. Haben ein Fischerboot geklaut, sagen sie, und sind gestern losgefahren, neun Freunde, alle um die zwanzig, modische Frisuren, die knöchellangen Jeans, wie sie Hip Hopper tragen, ein Nachdenklicher mit Brille, ein Schönling mit langen Haaren, ein Wortführer betont gelassen. Sonntagsausflügler nennen sie hier die Flüchtlinge, die es auf eigene Faust versuchen, oft spontan, und gegen alle Erwartung auch noch zügig durchkommen, weder abgetrieben noch abgefangen werden, fahren in Tunesien los und betreten keine vierundzwanzig Stunden später europäischen Boden. Die Erleichterung ist ihren Gesichtern abzulesen. Nicht einmal besonders erschöpft wirken sie, wirklich wie Sonntagsausflügler, denke ich jetzt auch. Die meisten anderen Flüchtlinge sind Tage unterwegs, weil sie große Umwege fahren, um den Patrouillen der FRONTEX-Agentur zu entgehen (mit ‹Agentur› redet Europa sich schön, was tatsächlich eine Armada ist), dreißig, vierzig Menschen auf einem Schlauchboot, die für den Platz an der sengenden Sonne buchstäblich ihr letztes Hemd gegeben haben. Die Mitarbeiter von ‹Ärzte ohne Grenzen›, die am Hafen warten, erleben oft den reinen Horror, wenn die Boote eintreffen, Flüchtlinge halb oder ganz tot vor Durst und Erschöpfung, fast alle dehydriert, viele traumatisiert, als Normalfall Verbrennungen, Auszehrung,schwere Übelkeit, Hunger, oft auch Knochenbrüche, und sie, die neun Freunde, sie fahren ohne lange nachzudenken einfach los wie auf eine Spritztour, kein Unwetter, keine Krankheiten, kein Motorschaden, nicht einmal eng haben sie es, nicht einmal Sonne, weil sie alle unters Dach des Kutters passen, und schlüpfen ungläubig durch die Maschen des Paradieses, wie sie Schengen in Afrika nennen. Die Ärzte ohne Grenzen kommen nicht zum Einsatz.
Die Beamten bringen die jungen Männer ins Aufnahmelager, von dort werden sie in ein, zwei Wochen in ein weiteres Lager auf dem Festland überführt. Mit Tunesien existiert noch kein Rückführungsabkommen, deshalb haben sie gute Chancen, nach drei, vier oder seien es acht weiteren Monaten Trostlosigkeit mit einem Ausweisungsbescheid auf die Straße geschickt zu werden, den sie in den Papierkorb werfen werden. Alle wissen das, die neun tunesischen Freunde, die Beamten, die beiden Herren in dunklen Anzügen, der Berichterstatter. Die meisten Flüchtlinge ziehen ohnehin weiter nach Norden, bekümmern den Staat also nicht, und wer bleibt, wird gebraucht: Ohne die Illegalen, die in Italien zwei, drei Euro die Stunde verdienen, gäbe es in Deutschland keine Pfirsiche für zwei, drei Euro das Kilo. Die Unaufgeregtheit, mit der die neun tunesischen Freunde befragt und nach nicht einmal zwanzig Minuten abgeführt werden, läßt vergessen, daß ihre Situation gleichwohl existentiell ist, der Bruch mit allem, was ihr bisheriges Leben ausmachte, der Beginn eines Lebens, dessen Konturen sie nicht einmal ahnen, in Europa zwar, ja, im Gelobten Land, aber ohne Rechte, ohne Krankenversicherung, ohne soziale Absicherung, fern der Familie, immer in Angst vor der Polizei. Inmitten der Dramen, die sich sonst auf dem Mittelmeer und noch auf der eigentlich abgesperrten Mole im Hafen von Lampedusa abspielen, mutet ihre Schicksalswende wie ein Normalfall an, den es fast nicht mehr gibt.
Geister
Auf Lampedusa herrscht der Ausnahmezustand. Ich parke meinen Roller auf dem Kirchplatz, um ins Internetcafé zu gehen, und als ich zehn Minuten später ins Hotel fahren will, ist er eingeschlossen von einer Marienprozession, für die alle fünftausend Bewohner der Insel ihre Festtagskleidung angezogen zu haben scheinen. Es ist Feiertag, herausgeputzt hat sich der Ort. Daß er auf den ersten Blick keine andere Geschichte bietet, ist die Geschichte. 19 820 Menschen haben die Zöllner und mit ihnen
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