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Außer sich: Roman (German Edition)

Außer sich: Roman (German Edition)

Titel: Außer sich: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Fricker
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drängte die Tränen zurück. Scheiße, sagte sie, das tut mir leid. Wir schwiegen beide. Und, fragte sie nach einer Weile, wird er es schaffen? Ich nickte. Sie konnte ja das Nicken nicht sehen. Schafft er es?, wiederholte sie ihre Frage. Ja, sagte ich, ich hoffe. Sie können noch nicht sagen, welche Schäden zurückbleiben. Sie fragte, ob ich Hilfe brauche. Ich sagte Nein. Das wird wieder, sagte sie, wirst sehen! Ich sagte Ja und legte auf. Die Uhr auf dem Handy zeigte nach zehn.
    Eine Schwester kam und bot mir ein Bett an. Ich wollte kein Bett; der Gedanke an ein Bett verursachte mir Brechreiz. Ich würde nie mehr schlafen können.
    Im Wartezimmer saßen jetzt nur noch wenige Leute. Ich setzte mich in einen der Sitze. Einzig die Plastikschale hielt mich einigermaßen aufrecht. Und nahm nochmals das Handy aus der Tasche. Klickte mich durchs Telefonbuch. Ich hörte eine Fliege brummen. Da war niemand, mit dem ich jetzt hätte reden wollen. Dem ich mich zum Trösten hätte anvertrauen wollen. Wozu sind Freunde da? Ich hatte keine Freunde. Offenbar. Die Fliege hockte auf dem Nachbarschalensitz. Jemand sagte, telefonieren sei hier übrigens verboten. Ich schaltete das Telefon aus.
    Ich stand auf und setzte mich wieder hin. Stand auf, ging durchs Krankenhaus, durch die langen kargen Flure, treppab, treppauf, innerlich stieg ich Berge hoch, höher, immer höher. Ich balanciere auf Gipfeln, Graten. Ein Fuß rutscht ab. Ich falle. Kaum unten aufgeschlagen, renne ich schon wieder auf die Felswand zu, bereit, mit bloßen, blutigen Fingern den Aufstieg neu zu beginnen. Innerlich siehts böse aus, ruft mir der Doktor hinterher. Das Echo zerfleddert die Worte. Das muss ja nichts heißen, schreie ich zurück. Ich habe eine solche Kraft. Seht her! Genug für zehn. Wir werden es allen zeigen!
    Neurochirurgie, Neurologie, Frührehabilitation. Die gedämpften Geräusche von Apparaten begleiteten mich. Saugen, schmatzen, knirschen. Ich zählte die Stufen, es waren immer dreiunddreißig. Jeder Treppenblock bestand aus dreiunddreißig Stufen. Ohne Ausnahme. Auf jedem Stockwerk gab es einen Notausgang. Neben jedem Notausgang stand ein Feuerlöscher. Unten, im Eingangsbereich, hing ein riesiger Wandteppich, gewoben aus erdfarbenen Stofffetzen. Das Bild zeigte den barmherzigen Samariter. Kann jemand solche Bilder schön finden? Sie erinnern an evangelische Vorstadtkirchen. Kahler Kirchenraum, nüchterne Form, flüchtiger Inhalt: Geist und Glaube. Rituale beschwören Gott. Terrakottagefliester Boden. Helle, naturhölzerne Bankreihen. Gesangbücher. Weiße Wände, gusseiserne Kerzenständer. Hinter dem Altar hängt als einziger Schmuck ein Wandteppich, von Kirchenfrauen gewoben aus erdfarbenen Stoffresten. Moses und der brennende Dornbusch. Der Blick klammert sich an dieses Motiv. Jeden Sonntag eine Stunde gefangen. Die Stunde ist lang. Der Pfarrer steht vor dem Bild und predigt. Er predigt für Konfirmanden, die unfreiwillig in seinen Bänken sitzen. Im Religionsunterricht schmeißt der Pfarrer mit Kugelschreiber oder Kreide, was er eben gerade in der Hand hält, wenn ihm der Kragen platzt. Er versteht nicht, warum wir nicht verstehen, was er meint. Wir sind eine Drecksbande, kein Respekt! Vor nichts Respekt! Er brüllt Wörter, die ein Pfarrer nicht einmal denken sollte. Wir lachen. Ein siegesgewisses, hämisches Klassenlachen.
    Ich denke an den Jungen, in den ich gerade verliebt bin. Ich denke an vieles, nur nicht an Gott, in dessen nacktem, kaltem Haus ich gefangen bin. Ich kaue mir die Fingernägel ab. Ich wippe mit den Füßen. Der neben mir sitzt, boxt mich in den Oberschenkel. Aua. Ich haue zurück. Die hinter uns sitzen zischen Psst. Ich strecke ihnen die Zunge raus. Jesus spende uns Trost, sagt der Pfarrer. Bei Unglück und Armut, bei Krankheit und Tod. An Herrn Jesus könnten wir uns immer wenden, er sei die Hoffnung und das Licht. Ich denke an den Geschichtsunterricht in der Schule. An die Schlachten. Der Pfarrer sagt, lasst uns beten, und senkt die Augen. Er hat ein zweifaches Doppelkinn. Ich falte die Hände und tue so, als ob ich bete. Danach kommt Großer Gott wir loben dich. Von mir aus könnte der ganze Gottesdienst aus Liedern bestehen. Das würde mir gefallen. Noch der Hinweis auf die Kollekte. Ich muss mich zusammenreißen, nicht hinauszustürmen, sondern ordentlich zu gehen in die Freiheit. Meine Schuhe drücken. Sie sind ziemlich neu. Steifes, noch nicht eingelaufenes Leder.
    Später, aus einem anderen Blickwinkel,

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