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Außer sich: Roman (German Edition)

Außer sich: Roman (German Edition)

Titel: Außer sich: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Fricker
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fand ich kleine Vorstadtkirchen doch interessant. Aus architektonischer Sicht. Die Konsequenz der geraden Linie, die Wirkung von Form und Maß, die Art der Lichtführung, die Schattenmuster. Evangelische Kirchenarchitektur als Hülle des Geistes. Nichts lenkt von der Illusion einer göttlichen Zwiesprache ab. Zugegeben, das hat etwas. Askese. Nicht schön, aber interessant.
    Der Pfarrer besuchte uns. Das mit mir, sagte er, ginge so nicht weiter. Wenn das so weiterginge, sei zu bezweifeln, dass ich konfirmiert werden könne. Vater sagte, er werde sich drum kümmern. Der Pfarrer sagte, das sei zu hoffen! Später kam Vater in mein Zimmer. Ich lag auf dem Bett und hörte Musik. Er setzte sich zu mir. Nicht konfirmiert zu werden, sei aus religiöser Sicht zwar nicht schlimm, aus gesellschaftlicher hingegen schon. Ich solle mich also bitte zusammenreißen! Mein Vater war Musiklehrer am Gymnasium der kleinen Stadt.
    Kurz hatte ich den Impuls, hoch in den Operationssaal zu stürmen, alle wegzustoßen, alle Schläuche zu kappen, Sebastian auf den Arm zu nehmen und zu verschwinden. Raus hier. Raus an die Luft. Hätte ich es nur getan! Aber er war ja kein Kind mehr. Er war ja ein erwachsener Mann, den ich auf meinen Armen niemals hätte tragen können.
    Bastian, sagte ich leise, Bastian, wo bist du? Wenn ich fest daran glaubte? Würde beten helfen? Ein Stoßgebet zum Himmel. Ein winziges Schicksal retten, wo dieser Gott so viele große Schicksale tagtäglich vergaß? Was sollte er denn retten? Sebastians Leben, sein Ich? Was? Was denn? Ich wusste mir nicht anders zu helfen. Ging zur Glastür. Ich suchte nach Natur. Ging hinaus unter die hohen Platanen, die zwischen den Klinikgebäuden wuchsen. Ein zunehmender Mond stand am klaren Nachthimmel, eine Sichel nur. Ich hing meinen Blick an diesen mageren Mond und faltete die Hände. Ich betete leise, betete arglos wie ein Kind.
    Doktor Manke konnte kaum die Augen offen halten. Seit dreißig Stunden im Dienst. Vor ihm auf dem Schreibtisch dampfte eine Tasse Kaffee. Und, fragte ich, und? Er murmelte etwas. Als müsse er dafür seine letzte Kraft aufwenden, hob er den Blick. Alles gut, sagte er, alles gut. Die größte Gefahr sei jetzt nur noch der sogenannte Vasospasmus, Krampf der Gefäße. Abwarten, hoffen. Heute früh hatte ich wieder angefangen zu rauchen. Im Klinikkiosk hatte ich mir Zigaretten gekauft. Er liege jetzt in einem künstlichen Koma, sagte Doktor Manke und nahm einen Schluck Kaffee. Um das Gehirn vor sich selbst zu schützen, damit es sich nicht selbst auffresse. Er sah aus, als lebe er von nichts anderem als von Kaffee. Schauen Sie mich nicht so an! Er könne auch nichts dafür, er sei ja schließlich nicht Gott. Darf ich zu ihm, fragte ich. Er nickte. Wir blieben beide noch sitzen. Eine halbe Ewigkeit ohne zu reden. Und in diesem Schweigen mit einem mir vollkommen fremden Menschen lag eine Art Trost.
    Erst war mir nicht ganz klar, wer wen am Sterben hinderte. Die Maschinen Sebastian oder umgekehrt. Apparate, Geräte, Kabel, Schläuche, Elektroden, Klipse, Beutel, Lampen, Kurven. Erschrecken Sie nicht, sagte Manke. Du bist gut. Nicht erschrecken? Was denn sonst? Ertragen, froh sein? Das sehen und es ertragen. Es für Hilfe halten. Einen Schlauch für die Luft, einen für Nahrung, einen Schlauch für den Urin, einen für den Kot. Einen Schlauch über dem Schlüsselbein für den zentralen Venenkatheter. Elektroden und Kabel an Brust und Kopf für EKG und EEG. Am Handgelenk einen halb mit Blut gefüllten Schlauch zur permanenten Messung des Blutdrucks. Am Finger eine rot leuchtende Klammer zur Kontrolle von Puls und Sauerstoffsättigung des Blutes.
    Intensivmedizin.
    Sebastians Hand war immer noch kühl, die Haut fühlte sich an wie Pergament. Ich setzte mich ans Bett und beobachtete die Elektrokardiogrammkurve. Einen Moment lang hatte ich Angst, die Kurve könne plötzlich abbrechen, sich nur noch als gerader grüner Strich über den Bildschirm ziehen, begleitet von monotonem Pfeifen. Die Zahlen des Blutdrucks könnten fallen.
    Mit einem leise schmatzenden Geräusch sog die Beatmungsmaschine Luft an und presste sie in Sebastians Lunge, stetig, unausweichlich, ein, aus, ein. Sebastian sah nicht aus, als würde er kämpfen. Weder ums Leben noch ums Sterben. Nur sein Brustkorb hob und senkte sich mechanisch.
    Doktor Manke stand hinter mir. Das Telefon hatte er nicht mitgenommen. Eine Schwester huschte herein und wieder hinaus. Der Boden war ausgelegt mit hellgrauem

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