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Außer sich: Roman (German Edition)

Außer sich: Roman (German Edition)

Titel: Außer sich: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Fricker
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denken, nur noch ankommen wollen.
    Ich kam an.
    Zusammen mit zwei Krankenschwestern wartete ich vor dem Lift. Junge Dinger. Sie unterhielten sich über Germany’s Next Top Model. Die eine sagte, Muriel, die müsse schon noch ein paar Kilo abnehmen, sonst fliege sie raus. Die andere nickte und zupfte sich die pechschwarz gefärbten Fransenhaare über die Augen. Ein heller Glockenton plingte und die Tür ging auf. Ich fragte, welches Stockwerk, Intensivstation. Sie schauten sich an. Hier stehts doch, sagte die mit den schwarzen Fransenhaaren. Tatsächlich: groß, riesig, rot.
    Ich solle mich in den Wartebereich setzen, sagte man mir, und wies hinüber zu einem Raum mit roten Schalensitzen. Ein Behälter mit Hydro-Kulturpflanzen. Eine Yuccapalme, falscher Wein. Ein Kinderbereich mit niedrigem Tisch, Bilderbüchern, Stofftieren, Holzklötzchen. Ein breites, hohes Fenster, draußen Bäume, Platanen, Hauswände aus gelbem Klinker. Mehrere Menschen warteten. Alle schienen ganz ruhig zu sein, sie lasen in Magazinen. Ein Kind begann mit den Holzklötzchen zu spielen. Es baute einen hohen Turm. Der Turm schwankte und stürzte zusammen. Die Klötzchen krachten auf Tisch und Boden. Das Kind freute sich. Es begann sein Bauwerk von vorne. Keiner kümmerte sich um das Kind. Warum waren die Menschen hier so ruhig? Warteten sie nicht alle auf Nachricht von jemandem, der gerade dem Tod ins Auge sah? Sonst wären sie ja nicht hier. Sie saßen wie angeklebt in diesen roten Plastikschalensitzen und sahen sich bunte Bildchen an. Ich hielt das nicht aus. Ich stand auf und ging zu dem Kind. Ich sagte, es solle aufhören. Mit diesem Lärm solle es gefälligst sofort aufhören! Eine Frau blickte auf. Aha. Mit bösen Blicken sah sie mich an. Mit bösen Blicken sah ich zurück. Das Kind spielte weiter. Ich ging hinaus auf den Flur. Selbst dort hörte ich es krachen, krachen und krachen.
    Backsteine, Balken, Waschbecken, Fliesen, zerfetzte Rohre. Das oberste Geschoss bloßgelegt. Ein Teppich hängt über dem Abgrund. Geblümte Tapeten an den Wänden. Spiegelsplitter, Fotos. Die hintere Wand fällt. Eine weiße Wolke steigt gemächlich auf, breitet sich aus. Der Greifer des Baggers knabbert am Mauerwerk, zaghaft noch, als komme der richtige Hunger erst später. Risse von oben bis unten. Das Haus, zu Tode verwundet. Der Greifer beißt jetzt herzhaft zu. Es rieselt, es fällt und kracht. Immer mehr Menschen bleiben stehen. Eine Frau, schräg hinter mir, weint. Sie presst sich ein Taschentuch vor Mund und Nase. Hat sie jahrelang in einer dieser Wohnungen gelebt? Ein Stück Herz in diesen Räumen vergessen? Platz für Neues: Die Lücke wird von einem Einkaufszentrum geschlossen werden. Eiscafé, Media Markt, Kaiser’s, H&M. Erwin ruft an, wo ich denn bleibe, das Meeting. Ich bin gleich da, schreie ich ins Telefon. Das dritte Obergeschoss gibt nach. Das zweite freigelegt. Nachdem sich der Staub verzogen hat: an den Wänden Poster. Das schreitende Rad der Volksbühne. Demoaufrufe 1989. Zerbricht, auch dieses fällt. Die Frau hinter mir ist weg. Das letzte Geschoss pulverisiert. Nur noch die Rückwand steht, wankt, stürzt. Übrig bleibt: ein Haufen Schutt. Ein Haufen Lebensjahre. Streit und Freude, letzte Nächte. Kinderlachen, Krankheit, Hoffnung.
    Mit einem scharfen Zischen ging die automatische Tür auf. Ein Arzt trat auf mich zu. Beide Hände in den Taschen des Kittels, neben seinem rechten Handgelenk baumelte der rötliche Gummischlauch eines Stethoskops. Nichts war in seinem Gesicht zu lesen. Intensivstation. Wahrscheinlich hatte er es sich zur Gewohnheit gemacht, selbst die schlimmsten Nachrichten emotionslos zu transportieren. Oder schlimme Nachrichten waren hier so normal, dass sie keinerlei Gefühlsregung mehr auslösten. Er streckte mir die Hand entgegen, Doktor Manke, eine dünne, faltige, braune Hand. Wir gingen in sein Sprechzimmer. Er wies auf einen Stuhl, ich gehorchte. Er selber setzte sich auf die Schreibtischkante und sagte, kommen wir zur Sache. Bei Sebastian sei ein Aneurysma der Arteria communicans anterior geplatzt. Die Folge: Subarachnoidalblutung, SAB, Blutung in die Hirnzwischenräume. Nicht schön. Prognose sehr vorsichtig, im Kopf drin sehe es böse aus. Er halte nichts davon, um den heißen Brei herumzureden. Jaja, das merke ich. Dieser heiße Brei war unser Leben. Irrsinnig schnell setzte die Hoffnung ein. Die Hoffnung, dass es doch nicht so schlimm sei. Dass er nur neu sprechen lernen müsste oder neu gehen lernen. Ich

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