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Außer sich: Roman (German Edition)

Außer sich: Roman (German Edition)

Titel: Außer sich: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Fricker
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Halbschuhe, abgetragen, schräg gelatscht, an den Sohlen klebte noch Erde von unserem letzten Spaziergang. Mit einer Bürste rieb ich den Dreck ab, fettete das Leder, polierte es sorgfältig mit einem weichen Tuch.
    Braune Halbschuhe, rahmengenäht. Er wollte sie erst gar nicht anprobieren. Wir waren in London, eingeladen zum 50. Geburtstag eines befreundeten Architekten. Wir hatten uns gestritten. Aus einem nichtigen Grund. Aus Langeweile. Um Zeit totzuschlagen, bis der Flug ging, schlenderten wir durch die Innenstadt. Wir redeten wenig. Bis wir an diesem Laden vorbeikamen. »Gibsons finest English leather since 1883« stand auf einem wahrscheinlich von Hand gemalten Schild. Sebastian blieb stehen. Im Schaufenster waren Schuhe ausgestellt. Halbschuhe, Stiefel, Jodhpurs, Handschuhe. So was findest du bei uns nicht mehr, sagte er begeistert. Ja. Sollen wir reingehen? Er zögerte. Komm. Ich hatte schon die Klinke in der Hand. Wir müssen ja nichts kaufen. Die Tür war abgeschlossen. Innen sah ich einen älteren Herrn auf den Eingang zukommen, hörte, wie er den Schlüssel drehte. Ein blechernes Rasseln erklang, als er die Türe öffnete. Wir traten ein. Im hinteren Teil des Verkaufsraums stand eine Werkbank. Leisten lagerten in Regalen bis unter die Decke. Es waren kaum fertige Schuhe zu sehen. Nur jene im Schaufenster und einige Paare auf einer Konsole in der Mitte des Ladens. An der Wand hing ein ausgeblichenes Poster, das eine Hundemeute zeigte. Möchtest du was anprobieren? Ich weiß nicht. Als lasse er sich einschüchtern von der Schlichtheit dieses Ladens, der Absenz jeglicher Dekoration. Hier mussten keine Kunden gelockt werden, oder nur solche, die Qualität zu schätzen wissen. Aber du brauchst doch Schuhe, Halbschuhe. Probier doch welche an, wo wir schon mal hier sind. Er brauchte tatsächlich Schuhe; wie alles trug er auch seine Schuhe, bis das Leder brüchig war, bis die Nähte sich lösten, bis sie nicht mehr zu reparieren waren. Mr. Gibson (nahm ich an) stand neben uns und wartete. Keine Spur von Ungeduld. Ich sagte, my husband würde sehr gerne die braunen Halbschuhe anprobieren, die draußen im Schaufenster. Welche Größe das denn sei? Siebeneinhalb. Einundvierzig? Perfekt. Mr. Gibson sagte, das seien eigentlich nur Ausstellungsstücke, normalerweise fertige er nach Maß. Trotzdem holte er die Schuhe aus dem Schaufenster, und Sebastian setzte sich auf einen der Schemel, um sie anzuprobieren. Es waren schlichte Halbschuhe aus weichem dunkelbraunem Leder. Die Sohle Kautschuk, der Innenschuh samten, die Rahmen handgenäht. Die Form so vollkommen, so elegant und gleichzeitig robust. Sebastian zog auch den linken Schuh an, stand auf, ging etwas herum. Ich sah an seinem Gesicht, dass er diese Schuhe niemals wieder ausziehen wollte. Es waren wohl die teuersten Schuhe seines Lebens. Wir mussten nochmals zur Bank, um Geld zu holen. Wir verpassten deswegen den Flieger.
    Jetzt waren die Schuhe abgetragen, man könnte sie noch ein-, zweimal nähen und besohlen lassen. Sie waren zu Negativen von Sebastians Füßen geworden. Seine Füße fehlten.
    Ich stellte die Schuhe zurück an ihren Platz.
    Im Glas neben dem Waschbecken steckte Sebastians Zahnbürste. Sein Rasierzeug.
    Auf dem Schrank lagen übereinandergestapelte alte Architekturmodelle, bedeckt von einer Staubschicht.
    An der Garderobe hing seine Jacke, sein gelber Seidenschal.
    Im Bücherregal standen seine Bücher.
    Auf dem Boden vor dem Bett lagen seine Socken, auf dem Bett sein T-Shirt, seine Unterhose. An einer Stelle glatt und etwas eingedellt. Katzenhaare verrieten Rufus’ neuen Lieblingsplatz. Über der Stuhllehne hing Sebastians weißes gutes Hemd, die Jeans war runtergefallen. Ich hob sie auf, faltete sie, strich sie glatt und legte sie über das Hemd. Die Sachen warteten. Warteten, bis jemand kam und sie in den Wäschekorb warf, zur Kleidersammlung brachte. Oder sie wieder anzog.
    Ich suchte Trost. Ich suchte im Internet nach Trost. Wühlte in Tragödien von Fremden. Es gibt ja nichts, was nicht schon anderen passiert ist. Ich gab ein: Subarachnoidalblutung. Ich fand in einem Forum Beiträge von Menschen, die eine SAB erlitten hatten und nun davon erzählten. Sie schrieben auf, wie sie gesund wurden. Mit großen Kellen schöpfte ich neue Hoffnung. Sebastian war nicht gestorben. Warum nicht? Ein Wunder, ein göttliches Zeichen? Nein. Dank der Maschinen. Danke den Maschinen! Der Operationstechnik, den Medikamenten. In einer Wildnis wäre er

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