Außer sich: Roman (German Edition)
zerren.
Ich wollte die Erkenntnisse wissenschaftlicher Forschung und die daraus folgende, logische Konsequenz nicht hören. Nicht jetzt. Ich wollte nicht zweifeln am Glückhaben. Ich durfte nicht.
Ich musste offenbar all das wissen. Zur Kenntnis nehmen.
Nein!
Ich vergaß die Zeit, den drohenden Notfall. Lange blickte ich auf diese verfluchten transparenten Bilder, diese Computertomografien von Sebastians Gehirn. Lichtungen, verschneit, erfroren. Ich fragte, ob man die Bilder bestimmt nicht verwechselt habe. Ignorieren, was dort zu sehen ist. Nicht wissen wollen, wie es in Sebastians Kopf aussieht. Man kann ja nicht beides, die Verheerungen kennen und gleichzeitig zuversichtlich sein. Man muss sich für eins entscheiden. Ärzte sind ja auch nur Menschen. Sie irren sich manchmal. Wir würden das durchstehen, Sebastian und ich. Ich fühlte mich stark. Ich könne jetzt zu ihm, sagte Manke, aber nur kurz.
Ich trat ein. Ich sah etwas in einem Bett liegen. Eine Maske, beinahe so weiß wie das Laken. Ich ging. Den langen Weg von der Tür zum Bett. Ich sah nichts, nur diese Ahnung eines Gesichts, Schläuche aus Mund und Nase. So fremd, so fremd die Hände, wie hergerichtet für eine Reise, von der er nie zurückkehren würde. Ich legte meine Hand auf seine. Kühl. Ganz kühl.
Bastian. Leer war mein Kopf, leer. Was war geschehen? Zum wievielten Mal? Wo waren wir? So was konnte doch mir nicht passieren. Uns nicht. Meinem Sebastian nicht. Ich fühlte mich noch auf der Autobahn. Schneller unterwegs, als ein Mensch verkraften kann. Gegen eine Wand fahren, die plötzlich aus dem Boden wächst. Das passte nicht zu uns. Wer war das in diesem Bett? War das jemand, den ich kannte? Ich verstand nicht. Wessen Hand? Was hatte ich hier zu suchen?
Ich streichelte die Hand ohne Leben. Diese einst kräftige, sehnige, warme Hand. Deren Berührung auf meinem Gesicht noch spürbar war. Wie die Fingerspitzen entlang meiner Augenbrauen glitten, über den Lidern zögerten, über die Wange zu den Lippen strichen. Ich seinen Finger suchte mit den Lippen, mit geschlossenen Augen, ihn in den Mund nahm, wir miteinander schliefen. Diese Hände so geschickt, so zärtlich, so gut. Lagen jetzt hier stumm und schon halb vertrocknet.
Nein, sagte ich, das ist er nicht. Als habe ich einen Leichnam zu identifizieren und als hinge nur von meinem Zeugnis ab, ob mein Mann noch lebte. Ich drehte mich um zu Doktor Manke. Das ist er nicht, wiederholte ich, laut, zornig. Im selben Moment klingelte das Telefon. Er müsse jetzt, leider, seien Sie tapfer. Er ging.
Ich holte einen Stuhl und setzte mich. Wächsern bleich dieses Gesicht. Augen geschlossen. Bastian, sagte ich. Seinen Namen. Meine Stimme klang heiser, hallte nach, als suche sie verzweifelt das Ohr, das zu diesem Namen passte. Bastian, sagte ich. Es geht weiter, du musst aufwachen. Du musst jetzt auch mal fahren. Bastian? Jana und Bernd und die Kinder warten. Die Kinder, ja. Ich will dir doch heut Abend noch etwas sagen. Eine Schwester kam und schickte mich hinaus. Sie würden jetzt coilen, da könne ich nicht dabei sein. Ob ich es weit habe nach Hause? Was für eine Frage. Wenn sie wüsste, dass mein Zuhause eben abgerissen wurde, übrig bleiben würden zerfetzte Tapeten, zersplitterte Spiegel, verbogene Rohre, ein Haufen Schutt.
Ich musste Jana anrufen. Zum Fenster, zur Tür, rechts, links. Ich versuchte, zu mir zu kommen. Ich überlegte, wen ich sonst noch anrufen könnte. Wen ruft man in so einer Situation an? Mutter? Aber nein, Mutter würde mir nicht zuhören. Sobald sie meine Stimme hörte, würde sie sofort zu erzählen beginnen, egal, was dem anderen (mir, uns) zugestoßen war. Zwanghaft würden Worte, Sätze aus dem Telefon quellen, zwischen die kein Atemzug passte. Manchmal legte ich einfach auf. Und rief gleich wieder an, um mich zu entschuldigen. Mein Handy war noch ausgeschaltet. Ich schaltete es ein. Vier Nachrichten, alle von Jana. Ich wählte ihre Nummer. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Hallo? Katja! Was eigentlich los sei, sie hätten die ganze Zeit auf uns gewartet. Sie klang verärgert und zugleich besorgt. Sebastian, sagte ich. Er liegt im Koma, er wird gerade operiert. Was? Habt ihr einen Unfall gehabt? In seinem Kopf ist etwas geplatzt, in seinem Gehirn. Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll, ein Aneurysma. Jetzt, als ich darüber sprach, zu beschreiben versuchte, was passiert war, schossen mir die Tränen in die Augen. Ich bekam keine Luft. Ich schluckte, ich
Weitere Kostenlose Bücher