Außer sich: Roman (German Edition)
gestorben. Vermutlich auch, wenn wir schon ein paar Kilometer weiter nördlich gewesen wären. Wenn der Hubschrauber etwas länger gebraucht hätte. Dann wäre er vom Koma in den Tod geglitten.
Ich las von einem Forscher, der Katzen das Gehirn entfernt hatte. Bei künstlicher Beatmung lebten sie problemlos weiter. Man hielt den Kreislauf in Gang. Man hielt die Organe frisch. Ein voreiliger Assistenzarzt hatte mich gefragt, ob Sebastian einen Spenderausweis habe, für alle Fälle. Ob ich im Falle seines Hirntodes die Organe zur Verfügung stellen würde? Wenn das Hirn tot ist, ist dann der Mensch auch tot? Das Herz noch schlägt, das Blut weiter durch den Körper getrieben wird, der mutmaßlich Tote schwitzt, verdaut, die Nieren das Blut reinigen. Was ist der Mensch ohne Hirn? Menschliches Leben oder bloß noch biologisches Leben? Wer kann eigentlich jedes Empfinden ausschließen, während die Organe herausgeschnitten werden und erst das fehlende Herz den Tod endgültig besiegelt. Ich hatte den Kopf geschüttelt. Nein! Ein Reflex. Sebastian als Ersatzteillager. Herz, Lunge, Leber. Gelenke, Haut, Sehnen. Ich wollte das nicht. Das nicht zu wollen, dachte ich, ist egoistisch, unanständig. Unanständig ist, sagte ich, mich das jetzt zu fragen! Ich solle es mir in Ruhe nochmals durch den Kopf gehen lassen. Mir überlegen, ob ich verantwortlich sein wollte für den Tod von Menschen, die ich mit Sebastians Organen hätte retten können.
Heutzutage muss man ja nicht mehr sterben, nur weil das Herz versagt, die Nieren oder die Leber. Heutzutage denkt jeder, er habe ein Recht auf ein neues Organ. Könnte man nicht auch das Gehirn transplantieren? Wir haben hier das Gehirn eines Fünfundzwanzigjährigen. Motorradunfall. Alles andere kaputt, einzig das Gehirn ist noch intakt, vom Helm einwandfrei geschützt. Fußballprofi. Ja, passt das denn? Aus einem Fußballer macht man so schnell keinen Sebastian. Muss halt nehmen, was kommt. Da säßen wir beim Frühstück, ich und das neue Hirn in Sebastians Kopf. Es würde den Sportteil haben wollen. Feuilleton interessiert es nun mal nicht, Politik auch nicht. Es würde acht Brötchen essen, fünf rohe Eier am frühen Morgen. Es würde sich beschweren über den schmächtigen Architektenkörper, in den es geraten ist. Täglich Stunden trainieren, Ausdauer, Koordination, Kraft. Aber nichts würde helfen. Sebastians Körper wäre zu alt. Nicht mehr trainierbar für so eine Hochleistung. Wir würden uns gegenseitig verachten. Da wäre es doch besser gewesen, ganz aufs Hirn zu verzichten. Geht ja auch ohne.
Ich holte Mutter vom Bahnhof ab. Mit jedem Jahr, das verging, schien ihr schmales, von einem Geflecht tiefer, feiner Fältchen durchzogenes Gesicht mädchenhafter zu werden. Den Grund ihres Kommens wohl einen Moment lang vergessend, strahlten ihre schönen, noch immer klaren Augen, als sie mich unter den Menschen am Bahnsteig erkannte. Sie trug eines dieser strengen Kostüme. Als wolle, als müsse sie der eigenartig jugendlichen Ausstrahlung ihres Gesichts etwas entgegensetzen. In lang gezogenen Ohrlöchern saßen matt glänzende Perlen. Mutter. Du siehst gut aus. Seit Jahren schlichen wir um einander herum, keiner getraute sich, den anderen wirklich zu berühren. Aus Angst vielleicht, Fehler zu machen, aus Angst, irgendeine Kontrolle zu verlieren.
Ich hatte das Gefühl, keine Zeit zu haben, ich wollte im Krankenhaus sein, nicht hier. Wir fuhren nach Hause, um ihr Gepäck zu deponieren, und anschließend gleich zu Sebastian. Er schlief und schlief. Nichts hatte sich verändert seit der Komplikation. Alles hatte sich verändert: schwerer Vasospasmus in der Arteria cerebri anterior mit anschließend schweren Durchblutungsstörungen im ventromedialen Cortex. Einblutungen ins Hirngewebe. Und doch war keine Spur davon zu sehen. Lebloser als zuvor konnte er ja kaum daliegen. Die bekannten, inzwischen vertrauten Geräusche, Gerüche. Mutter setzte sich auf die andere Seite des Betts. Sie lutschte ein Bonbon. Sie fasste ihn nicht an. Sie sagte nichts. Ihre Hände lagen im Schoß. An ihren nackten Armen bildete sich Gänsehaut. Sie starrte auf Sebastians Hände, die auf der Bettdecke lagen. Ist dir kalt? Zieh dir doch die Jacke an. Sie reagierte nicht. Mutter! Ich stand auf und ging zu ihr. Nahm die Jacke von der Stuhllehne, legte sie ihr über die Schultern. Was ist, Mutter? Als erwache sie aus einem Sekundenschlaf, schreckte sie auf. Was? Nein, nichts ist. Das sieht ja böse aus, was sagen
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