Außer sich: Roman (German Edition)
dreißig Flaschen à 15 Cent, macht 4,50 Euro. Macht 135 Euro pro Monat. Immerhin. Dazu Hartz IV. So eine Tätigkeit können sie dir ja nicht nachweisen. Möglicherweise besser, als von morgens bis abends eine schäbige, schlecht bezahlte Arbeit zu tun. An der frischen Luft, keine starren Arbeitszeiten. Zeit wie Heu. Genau.
Als ich näher kam, um ihn zu überholen, sah ich die Armut an Kragen und Ellbogen. Am linken Ärmel fehlte ein Knopf, ein zweiter hing nur noch an einem Faden. Sein einziges, sein letztes Jackett. Überall leuchteten plötzlich orangefarbene Kleckse. Man glaubt ja gar nicht, wie viele Mülleimer es in so einem Kiez gibt.
Ich stieg die Treppe zum Engelbecken hinunter. In den Bäumen saßen Stare. Schwärme von Staren. Die Luft war erfüllt von ihrem Schwatzen, oder wie soll man dieses Geräusch nennen, ein elektrisches Flirren, ohne jedes sichtbare Zeichen jäh unterbrochen, bevor es wieder anschwoll. Lauter als zuvor. Im Rosengarten waren junge Rosen zwischen die alten gepflanzt worden. Laut plappernd kam mir eine Kindergartengruppe entgegen. Sie hielten sich immer zu zweien an den Händen. Durcheinandergeschrei, eines greller als das andere, jedes will gehört werden, keines wird verstanden. Unversehens senkten sie die Lautstärke, als sie sich näherten. Warfen mir Blicke zu, etwas schüchtern, etwas verschämt. Ich sah an mir herunter. Wie von selbst teilte sich die Gruppe um mich, schloss sich hinter mir wieder zusammen. Ich versuchte, eine der weiß blühenden Rosen zu brechen, musste ihren starken Stiel mit dem Bart des Hausschlüssels durchsäbeln.
Die Stare stürzten aus den Bäumen. Hunderte, Tausende Vögel, die, als bildeten sie gemeinsam einen einzigen Organismus, ein fantastisches Ballett am Himmel zeigten. Impulse zur Richtungsänderung schienen jeden einzelnen Vogel gleichzeitig zu erreichen. Sich ununterbrochen transformierend floss der Körper durch die Luft.
Ich war gern allein. Aber ich mochte es, dabei zu denken, Sebastian denke an mich in diesem Moment oder im nächsten. Ich stellte ihn mir vor, am Schreibtisch sitzend, im Gespräch mit einem Kunden, auf einer Baustelle.
Mein Sebastian
. Wenn er an einen anderen Menschen denkt, denkt er zuerst an mich, glaubte ich. Nach Hause kommen, ohne dass jemand wartet oder noch kommt – wie wäre das? Ich sah in die Richtung, in die die Kinder verschwunden waren. Ich bildete mir ein, ihre Stimmen noch zu hören. Die Rose roch nach nichts. Zu Hause stellte ich sie in einer Vase auf den Balkon.
Die Ampel vor der Pankower Auffahrt zeigte Grün. Leicht ansteigend, linker Hand die Riegel der Plattenbauten, beschreibt die Autobahn dreispurig eine weite Kurve nach rechts. Ich beschleunigte. Mit einem Kind würde ich die Welt anders sehen. Blumen. Die Wolken am Himmel. Ich würde langsamer gehen, weil Kinder ständig auf dem Boden etwas finden, das sie aufheben müssen, oder sie vergessen die Welt über Mohnblumen mit kurz vor dem Platzen stehenden Knospen. Knospe um Knospe klauben sie mit den kleinen Fingern auseinander und finden darin ein Mysterium, blutrote, eng gefaltete Blütenblätter. Oder sie haben Angst vor Gewittern. Sie dürften zu uns ins Bett schlüpfen. Wir würden ihnen mit unseren warmen Körpern die Angst nehmen und mit leiser Stimme erklären, dass der liebe Gott im Himmel mit Kegeln spiele.
Auch mit knapp vierzig konnte man noch gesunde Kinder bekommen. Sebastian hatte recht, man musste nicht von vorneherein mit etwas Schlimmem rechnen. Ich hielt das Steuer mit dem Knie und streckte mich. Ohne den Blick von der Straße zu nehmen, griff ich hinüber zu Sebastian. Ich spürte seinen Oberschenkel, suchte seine Hand. Ich weiß nicht, ob ich mir das einbildete, aber seine Hand war irgendwie weicher als sonst. Ich sah ihn an. Sein Kopf lehnte an der Nackenstütze, er hatte die Augen geschlossen. Ist etwas, fragte ich. Verspannte Schultern, Kopfschmerzen, ein bisschen übel sei ihm, sonst nichts. Ich massier dich, wenn wir da sind, ja? Er drückte meine Hand.
Keine Frage, wir würden Rufus einschläfern lassen müssen. Obwohl es letzte Woche etwas besser geworden war mit dem Pinkeln. Ich zögerte es hinaus, ich konnte mich einfach nicht dazu entschließen, dieses Katerleben mutwillig zu beenden. Dass er Schmerzen hatte, glaubte ich nicht. Hätte er Schmerzen, würde ich ihn sofort einschläfern lassen. Zum Operieren, sagte der Tierarzt, sei der Kater jedenfalls zu alt, er würde die Narkose nicht überleben. Sollte es ihm
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