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Außer sich: Roman (German Edition)

Außer sich: Roman (German Edition)

Titel: Außer sich: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Fricker
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Sebastian antwortete nicht, er döste. Samstag. Der Verkehr war dichter geworden. Wie konnte man nur auf die bescheuerte Idee kommen, für ein Wochenende an die Ostsee oder nach Mecklenburg zu fahren? Wozu für ein Wochenende Hunderte Kilometer fahren? Wir hätten doch zu Hause bleiben sollen! Ich war genervt. Diese verfluchte Schwüle. Zum Glück schlief Sebastian. Sonst hätte ich ihn womöglich wegen einer Lappalie angefaucht. Ich blinkte, zog hinüber auf die linke Spur, beschleunigte auf knapp zweihundert. Scheuchte vor mir alles runter, was langsamer fuhr. Half ganz gut. Von Joachimsthal bis Pfingstberg gibt es fast dreißig Kilometer lang keine einzige Ausfahrt. Durch die Schorfheide. Wald rechts, Wald links, Wildzäune. Kurz vor Pfingstberg war die Wut verflogen.
    Eine Frau würde wohl oft Angst um Thomas haben. Ich stellte mir vor, wie er das Festland bei schlechtem Wetter verlassen hatte. Vor sich das sperrangelweit offene Meer. Hatte ihn keiner gewarnt? Er hätte sowieso jede Warnung in den Wind geschlagen. Ich glaube, Thomas setzte sein Leben bewusst aufs Spiel. Ohne Risiko kein Gewinn. Was war der Gewinn? Landfall an schier unerreichbar fernen Küsten? Sich von den Gewalten der Natur nicht einschüchtern, sondern herausfordern lassen? Ablegen. Geh nicht, warte! Niemand sagte das zu ihm. Am Limit. Sich nur lebendig fühlen auf Messers Schneide. Das habe ich nie verstanden. Wir hatten Thomas damals Capitano genannt. Es klang ein bisschen nach Kuba, nach Revolution. Capitano. Es klang nach den naiven Träumen wohlbehüteter Kinder, die nicht wussten, was Freiheit sonst noch bedeuten kann.
    Auf Monate hinaus war unser, Sebastian und mein Leben verplant. Anders ging es nicht. Wir lebten von Termin zu Termin. Wir arbeiteten weit über jeden Feierabend hinaus. Leere Zeit kam selten vor, Spontaneität, Leben im Jetzt. Wir hatten unsere Rituale, Zeitung lesen frühmorgens. Bevor wir beide aus dem Haus gingen in die Büros, auf Baustellen, zu Kunden. Seit zwei Monaten war dieses Wochenende in Mecklenburg fest verabredet. Unsere Freunde hatten ihrerseits viele Freunde und einen Plan für sämtliche Sommerwochenenden. Alle besetzt. Großes Problem, wenn man (wie wir das zweimal getan hatten) einen Besuch verschieben musste. War es vielleicht gar nicht das Risiko, das Thomas suchte, sondern das Erstaunliche, das Überraschende, das nicht ohne Risiko zu haben ist? Nicht wissen, was morgen sein wird. Nicht jeder kann das ein Leben lang.
    Prenzlau. Ich fuhr jetzt im Windschatten eines Lastwagens. Ewig so weiterfahren, im Windschatten der Schwichow-Söhne-Spedition, Stettin. Wie hatte Sebastian wissen können, dass ich mich umstimmen ließe? Sein Kinderwunsch hatte Tag für Tag an mir geknabbert, hatte sich klammheimlich in einen eigenen Wunsch verwandelt. Ich würde ihm am Abend sagen, dass ich mir jetzt doch auch ein Kind vorstellen konnte.
    Plötzlich bremste der vor mir hart. Im letzten Moment konnte ich noch reagieren. Sebastian schreckte aus dem Schlaf. Er richtete sich etwas auf, rieb sich die Augen. Was ist? Weiß nicht, Stau wahrscheinlich. Auch ich war müde. Und jetzt noch das hier. Als es nach einer Viertelstunde noch immer nicht weiterging, rief ich bei unseren Freunden an und sagte, es würde später werden. Stau, Wochenendverkehr. Zugleich sah ich im Rückspiegel blaue Lichter und hörte die Sirene. Oder doch ein Unfall, kann dauern. Ihr Armen, bei der Hitze, sagte Jana im schattigen Garten ihres Landhauses, im Hintergrund Gebell und Geschrei. Bis bald, sagte ich. Die Ambulanz fuhr vorbei. Die Leute begannen auszusteigen und Richtung Unfall zu schlendern. Ich hatte Gänsehaut. Unweigerlich ist man froh, verschont geblieben zu sein. Lebendig, unverletzt. Freut sich ein bisschen. Keine Schadenfreude, Erleichterung vielmehr. Um sich das Warten zu verkürzen, stellt man sich die Frage, wie das Schicksal eigentlich die Opfer auswählt. Nach welchem Schlüssel. Gerecht, ungerecht. Warum überlebt man einen Flugzeugabsturz oder ein Fährunglück. Warum verpasst einer aus irgendwelchen Gründen das Schiff, das untergehen wird. Zu spät am Hafen, obwohl er sonst immer überall zu früh hinkommt. Und ein anderer, der nicht selten Züge, Flugzeuge und Fähren verpasst, ist ausnahmsweise mal pünktlich am Check-in.
    Hat der eine im Leben nur Pech und der andere nicht. Als säße Gott im Himmel mit einer riesigen Fliegenklatsche. Habe sich ein Menschlein ausgesucht unter Milliarden. Ein Schlag. Das Menschlein aber,

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