Außer sich: Roman (German Edition)
Ja, sagte er. Er nahm meine Hand und streichelte sie. Was ja, fragte ich. Nein, sagte er, ich meine, man muss ja nicht gleich mit so was rechnen. Ich weiß nicht, sagte er, aber ich möchte gerne mit dir eine Familie haben. Irgendwie bin ich auch neugierig, wie ein Kind von dir und mir aussähe. Und wenn wir uns mal verlassen, schob er nach, sind wir nicht ganz allein. Jeder nicht. Was soll das jetzt? Warum sollten wir uns verlassen? Warum sagst du das? Er schwieg. Seltsam, ich hatte in all den Jahren nie ernsthaft an eine Trennung gedacht und hatte wie selbstverständlich angenommen, dieser Gedanke sei Sebastian so fremd wie mir. Und überhaupt, was war das für eine Idee? Ich schwitzte. Der Weg vor uns krümmte sich zu Buckeln und Schanzen. Sebastian nahm mich in den Arm. Schhh, machte er, um mich zu beruhigen, so war das doch nicht gemeint. Ich suchte seine Augen. Seine Augen waren blau, wie immer. Andere Frauen hätten sich gefreut. Ich hatte nie Kinder gewollt. Sebastian wusste das. Ich wehrte mich mit Händen und Füßen. Ich glaubte, er wolle mir etwas unterjubeln. Lächerlich. Wollte ich nicht, würde ich kaum ein Kind bekommen. Niemals hätte ich Torschlusspanik zugegeben, selbst wenn ich sie gehabt hätte, nicht. Ich konnte in unserem Leben keinen Platz für Kinder finden. Stunden auf Spielplätzen zu verbringen, auf denen Dutzende anderer Mütter oder Väter die frühe Sozialkompetenz ihres Nachwuchses beobachten, kam mir nicht reizvoll, sondern ziemlich öde vor.
Ich schüttelte den Kopf. Mehr über mich selbst. Seine Frage war ja nun wirklich kein Grund, sich so aufzuregen. Er küsste mich auf die Stirn. Zögernd gingen wir weiter.
In der Zwischenzeit hatten wir nicht mehr darüber gesprochen.
Gibst du mir die Politik? Ich schob ihm meinen Teil der Zeitung über den Tisch. Als könne er Gedanken lesen, sah er in diesem Moment auf und sagte, wenn du nicht willst, lassen wirs. Ich meine das mit den Kindern. Er sah müde aus. Lass uns noch mal in Ruhe darüber reden, sagte ich, nicht jetzt.
Wir hatten schon gestern gepackt, viel brauchten wir ja nicht. Ich stellte Rufus Futter für zwei Tage hin, die Nachbarin würde nach ihm sehen. Aber schön aufs Klo gehen, sagte ich zu ihm und drohte mit dem Finger. Er sah mich aus seinen Kateraugen an, mit vom Alter schon etwas trübe gewordenen Pupillen, dennoch wach, zutraulich. Nein, so blickt kein Tier, das Schmerzen hat. Ich strich ihm über den Kopf, kraulte ihn hinter dem Ohr. Sebastian machte das Bett, ich den Abwasch. Gerade als ich die Tür ins Schloss ziehen wollte, klingelte das Telefon. Sebastian war schon unten. Ich wartete noch, bis der Anrufbeantworter ansprang. Sebastians Stimme: Hinterlassen Sie bitte eine Nachricht, wir rufen zurück, Piep. Es war meine Mutter. Ich wollte nur hören, wie es euch so geht. Ruf mal zurück. Sie hatte sich seit Wochen nicht gemeldet. Wir uns auch nicht. Ich zog die Tür zu.
Auf der Wippe des Spielplatzes vor unserem Haus saßen zwei Teenager und wippten wild auf und ab. Das Mädchen kreischte jedes Mal, wenn die Bewegung oben und unten jäh gestoppt wurde, der Junge blieb stumm. Die beiden, noch halbe Kinder, verloren sich keine Sekunde aus den Augen. Eine Weile stand ich einfach da und sah ihnen zu.
Sebastian wartete auf dem Beifahrersitz. Ich dachte, du fährst? Nein, fahr du. Ich setzte mich ans Steuer.
Am Tag zuvor hatte ich zwischen zwei Terminen eine Lücke gehabt. Ich schlenderte über den Mariannenplatz. Beide Hände in den Taschen meiner Jacke vergraben, trieb ich dahin wie jemand, der Zeit hat. Im Hinterkopf die nächste Projektleitung, Umbau Industriebau 19. Jahrhundert. Filzfabrikation. Fassade Backstein, gelb-rot gemustert. Mächtige Fenster horizontal. Charakter eines Ortes der Arbeit. Neu: ein Ort des gepflegten Wohnens an bevorzugter Lage am Ufer des Flusses. Wie viel Bewahrung, wie viel Neuinterpretation? Wie fügt es sich ins Ganze ein? Stadtraum. Schräg vor mir ging ein junger Mann. Er war ordentlich, fast elegant gekleidet. In der linken Hand trug er mehrere Plastiktüten. Vor einem orangefarbenen Mülleimer blieb er stehen. Sah sich kurz um. Schob den rechten Arm bis über den Ellenbogen in die Öffnung, tastete, fand, zog eine Petflasche heraus, verstaute sie in einer der Tüten. Ich kam mir vor wie ein Voyeur. Er zählte die Flaschen und ging weiter. Bevor er in den nächsten Mülleimer griff, blickte er wieder kurz um sich. Wie viel Geld verdiente man auf diese Weise pro Tag? Sagen wir
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