Australien 03 - Tal der Sehnsucht
ihrer Mutter und der abweisenden Behandlung durch ihren Vater gegangen waren. Schließlich war nur noch Julian als Prügelknabe geblieben.
Rosemary konnte hören, wie ihr Bruder jetzt geräuschvoll die Schaufeln und die anderen Zaunreparaturwerkzeuge von dem verbeulten Toyota zog, der als Farmfahrzeug diente. Julian war nur ein Jahr jünger als sie und sehnig wie ein Windhund. Seine Arbeitskleider hingen schlotternd an ihm herab, und sein beschlagener Gürtel aus Känguruleder sah aus, als hätte er ihn wieder und wieder um den Bauch geschlungen. Das Haar fiel in braunen Wellen über seine Augen und fast bis auf die feinen Wangenknochen. Margarets unausgesetzten Nörgeleien zum Trotz trug er es seit Jahren länger als die meisten Männer im Distrikt.
Bruder und Schwester schienen aus einer längst vergangenen Welt zu stammen. Keiner von ihnen hatte viel für Punkrock oder für Singletreffen übrig, und keiner schickte SMS an seine Freunde, ob sie nicht einen Tag zum Melbourne Cricket Ground fahren sollten, um sich ein Spiel anzuschauen und sich volllaufen zu lassen. Die Kinder der Highgrove-Joneses wurden von ihrer Mutter dazu erzogen, die Tradition des ›niederen Landadels‹ am Leben zu erhalten. Rosemary seufzte. Sie träumte davon, über die weiten Ebenen und felsigen Höhen zu reiten, die zu den weitläufigen Ländereien der Highgrove Station gehörten. Aber bislang waren ihre Träume genau das geblieben, nämlich Träume, und das Leben tröpfelte weiterhin an ihr vorbei. Jahr für Jahr die gleichen Termine, säuberlich auf einem Rosenkalender von David Austin vermerkt. Weihnachtsempfänge, Spendengalas für das Krankenhaus, Gartenfeiern, Kirchenfeste – das war die Domäne ihrer Mutter, und bei jedem dieser Anlässe musste Rosemary dabei sein.
Die Arbeitstermine, die wirklich zählten – die Schur, die Madenkontrolle, das Drenchen, um die Klauen zu desinfizieren, und das Kennzeichnen der Lämmer — waren auf dem Weekly Times- Kalender ihres Vaters vermerkt. Rosemary durfte immer nur von weitem zuschauen. Als sie sich mit Sam verlobt hatte, hatte sie im Stillen gehofft, dass sich dadurch eine Welt neuer Möglichkeiten auftun würde. Er besaß die besten australischen Treiberpferde im ganzen Distrikt und eine ganze Meute von schlanken Kelpies, wie man keine besseren finden konnte. Stundenlang hatte sich Rosemary ihr neues gemeinsames Leben auf dem Gut der Chillcott-Clarks ausgemalt. Sam würde ihr beibringen, ein Schaf zu Boden zu werfen und im Galopp in einen eiskalten Winterfluss zu reiten; einen gehorsamen, spitzohrigen Kelpie mit einem gellenden Pfiff in einem weiten Bogen um die frisch geschorenen Schafe zu lenken; andere Pferde im Gedränge eines Polocrosse-Matches aus dem Spiel zu drängen; kurz, das Farmgirl zu werden, das sie immer sein wollte.
Aber im ganzen letzten Jahr war nichts dergleichen passiert. Stattdessen merkte sie, wie sie in den Fängen von Mrs Chillcott-Clark gelandet war, die genau wie ihre Mutter in einem Country-Style- um-jeden-Preis-Wahn lebte. Rosemary biss sich auf die Lippe und rollte sich auf ihrem Bett zusammen. Gerade als sie die Augen schloss, hörte sie, wie das scharfe Schrillen des Telefons durchs Haus und über den Hof hallte. Ihr Vater war inzwischen im Haus und sprach deutlich vernehmbar.
»Highgrove Station. Gerald am Apparat.«
Rosemary war schon vom Bett gesprungen. Die Stimme ihres Vaters schallte die Treppe empor.
»Sam, mein Junge! Du musst lauter sprechen. Bei euch herrscht ein rechter Lärm. Nein, mein Junge. Das ist sie. Sie …«
Rosemary rannte die Treppe hinunter.
»Ja, ich glaube, sie ist schon zu Bett gegangen. Ich werde es ihr gleich morgen früh sagen. Adieu einstweilen.« Und dann legte er auf.
»Ach Dad!«, beklagte sich Rosemary. »Ich war doch gar nicht im Bett! Wo ist er denn? Kann ich ihn zurückrufen?«
»Sam sagt, dass er dich morgen Nachmittag nach der Arbeit abholen wird, damit ihr zusammen zum Quizabend des Rotarierclubs fahren könnt. Heute kann er leider nicht mehr vorbeikommen, weil er Oakwood heimfahren muss.«
»Aber Dad!«
»Lass gut sein, Rosemary«, befahl ihr Gerald. Dann drehte er ihr den Rücken zu und ging davon.
Wieder in ihrem Bett liegend kniff Rosemary die Augen zu und dachte an Sam. Er war ihr erster richtiger Freund. Sie meinte, immer noch den Bieratem in seinem Mund zu schmecken und seine Hände auf ihren Schultern zu spüren, als er sie das erste Mal geküsst hatte. Sie waren in der Küche gewesen, um ein
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