Avalon 08 - Die Nebel von Avalon
ein Kind zur Welt zu bringen, bei dessen Geburt sie beinahe gestorben wäre, hatte sie nur Söhne. Und wie es schien, stand vor ihr die Nachfolgerin, die die Göttin ihr gesandt hatte – eine Verwandte, die die Gabe des Gesichts besaß. Das Mädchen sah sie mit völligem Vertrauen an. Einen Augenblick lang konnte Viviane nicht sprechen.
Bin ich bereit, auch gegen dieses Mädchen hart zu sein? Kann ich sie ausbilden, ohne ihr etwas zu ersparen, oder wird meine Liebe mich weniger hart werden lassen, als ich sein muß, um eine Hohepriesterin aus ihr zu machen? Kann ich ihre Liebe, die ich durch nichts verdient habe, für mich benutzen, um sie der Göttin zu weihen?
Aber die lebenslange Selbstbeherrschung gebot ihr zu warten, bis ihre Stimme wieder klar und ruhig klang. »So sei es denn. Bringe mir ein Becken aus Silber oder Bronze. Es muß vollkommen sauber und mit Sand gescheuert sein. Fülle es mit frischem Regenwasser; es darf kein Wasser aus dem Brunnen sein! Achte darauf, daß du mit keinem Menschen sprichst, nachdem du das Becken gefüllt hast.«
Viviane saß am Feuer und wartete geduldig, bis Morgaine schließlich zurückkam.
»Ich mußte das Becken selbst scheuern«, sagte sie. In den Händen hielt sie ein glänzendes und sauberes Gefäß, das bis zum Rand mit klarem Wasser gefüllt war.
»Löse jetzt deine Haare, Morgaine,« Das Mädchen sah sie neugierig an, aber Viviane sagte leise und ernst: »Stell jetzt keine Fragen.«
Morgaine nahm die Haarspange ab, und ihr langes, dunkles, dichtes und glattes Haar fiel ihr über die Schultern.
»Wenn du irgendwelchen Schmuck trägst, so nimm ihn ab und lege ihn dorthin. Er darf nicht in der Nähe des Beckens sein.« Morgaine zog zwei kleine Goldringe vom Finger und nahm eine Brosche von ihrem Kleid. Ohne die Nadel glitt das Oberkleid von ihren Schultern. Wortlos half Viviane ihr, es auszuziehen. Viviane öffnete einen Beutel, den sie um den Hals trug, und nahm ein paar zerstoßene Kräuter heraus, die einen süßlichen, schweren Geruch in der Kammer verbreiteten. Sie warf ein paar der Blättchen in das Becken und sagte mit leiser, ruhiger Stimme: »Blicke in das Wasser, Morgaine. Laß deine eigenen Gedanken ruhen und sage mir, was du siehst.«
Morgaine kniete vor dem Becken nieder und blickte gesammelt in das klare Wasser. In der Kammer war es still – so still, daß Viviane das Zirpen der Insekten draußen hörte. Dann sagte Morgaine mit tonloser, schwankender Stimme: »Ich sehe ein Boot. Es ist schwarz ausgeschlagen … vier Frauen stehen darin… Königinnen, denn sie tragen Kronen… eine seid Ihr… oder bin ich es?«
»Es ist die Barke von Avalon«, erklärte Viviane leise. »Ich weiß, was du siehst.« Sie bewegte die Hand leicht über dem Wasser, und es kräuselte sich. »Sieh hin, Morgaine. Sage mir, was du siehst.« Diesmal dau
erte das Schweigen länger. Schließlich sagte Morgaine mit derselben merkwürdigen Stimme: »Ich sehe Hirsche, ein großes Rudel Hirsche. Unter ihnen ist ein Mann mit bemaltem Körper… sie haben ihm das Geweih aufgesetzt… oh, er ist gestürzt; sie werden ihn töten…« Ihre Stimme zitterte, und wieder bewegte Viviane die Hand über dem Wasser, das sich kräuselte.
»Genug«, befahl sie. »Jetzt versuche deinen Bruder zu sehen.« Und wieder herrschte Schweigen, ein langes, quälendes Schweigen. Vivianes Körper verkrampfte sich unter der Anstrengung, still dazusitzen, aber ihre übergroße Selbstbeherrschung half ihr, sich nicht zu bewegen. Endlich murmelte Morgaine: »Er liegt so still… aber er atmet. Er wird bald erwachen. Ich sehe meine Mutter… nein, es ist nicht Mutter, es ist meine Tante Morgause. Ihre Söhne sind alle bei ihr… vier… Merkwürdig, sie tragen alle Kronen… da ist noch jemand; er hält einen Dolch in der Hand… warum ist er so jung? Ist es
ihr
Sohn? Oh, er will ihn töten, er will ihn töten… o nein!« Sie schrie auf, und Viviane berührte sie an der Schulter.
»Genug!« sagte sie. »Wach auf, Morgaine.«
Morgaine schüttelte den Kopf wie ein kleiner Hund nach langem Schlaf. »Habe ich wirklich etwas gesehen?« fragte sie. Viviane nickte. »Eines Tages wirst du lernen zu sehen, und dich daran zu erinnern. Aber für heute reicht es.«
Jetzt war sie gewappnet, um sich Uther und Igraine zu stellen. Soweit sie wußte, war Lot von Orkney ein ehrenwerter Mann, und er hatte Uther die Treue geschworen. Aber wenn der Großkönig ohne Erben starb… Morgause hatte bereits zwei Söhne, vermutlich
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