AvaNinian – Zweites Buch
1. Kapitel
22. Tag des Regenmondes 1465 p.DC
»Wag ... Wag! Wo steckt der Kerl? Nie ist er da, wenn man ihn braucht!«
Ninian zog die Filzjacke enger um sich. Sie hockte mit untergeschlagenen Beinen auf dem Diwan in ihrem Wohngemach. In der Nacht war das Feuer im Kamin ausgegangen und obwohl es in Dea nicht fror wie in ihren heimatlichen Bergen, kroch die klamme Kälte vom Meer den Fluss herauf durch alle Ritzen des alten Gemäuers.
Eine blasse Wintersonne schien durch die Fenster, die Strahlen wärmten noch nicht, aber Ninian war dankbar für das Licht. Sie hatten sich in diesem Raum den unerhörten Luxus von Glasscheiben gegönnt und diese noch vor Mittwinter einsetzen lassen. Jermyn hatte über die Kosten gemurrt, aber jetzt war er ebenso froh wie sie, bei schlechtem Wetter nicht hinter geschlossenen Läden im trüben Schein der Öllampen sitzen zu müssen. Allerdings hatte er mächtig auf den Glaser eingewirkt, als der seinen Lohn verlangte.
Ninian hauchte in die Hände. Ihre Beschäftigung fesselte sie und sie verspürte nicht die geringste Lust, Holz heraufzuschleppen und einzuheizen. Es war Wags Aufgabe, die Feuer in den Kaminen in Gang zu halten.
Sehnsüchtig blickte sie nach der gläsernen Bilha auf ihrem kleinen Messingofen. Das brodelnde Wasser würde ihr wenigstens die Illusion von Wärme vorgaukeln, aber sie hatte versprochen, nie im geschlossenen Raum zu rauchen, und es war zu kalt, um ein Fenster zu öffnen. Jermyn hatte es gut: Das Messingkännchen für seinen Kahwe blinkte bräsig auf der anderen Seite des Diwans, er musste auf den Genuss seines schwarzen Getränks nicht verzichten. Solange es warm gewesen war, hatten die Fenster offen gestanden oder sie hatten es sich auf dem Dach zwischen den Trümmern bequem gemacht, aber das kalte Wetter hatte diesem Vergnügen ein Ende bereitet.
Seufzend wandte sich Ninian wieder ihrer Arbeit zu. Vor ihr auf dem niedrigen Tisch glitzerte ein Haufen glasierter Tonwürfel im Sonnenlicht. Aus Langeweile hatte sie begonnen, die Steinchen zu einem Bild zusammenzufügen, und schon das erste Motiv fachte ihre Neugierde gewaltig an. Sie ahnte, was das ganze Bild ergeben würde, aber man brauchte einen Schlüssel, um sicher zu sein.
Sie streckte sich und lockerte die verkrampften Glieder. Zufrieden sah sie sich in dem stillen Gemach um und ihr Blick fiel auf die Wandmalerei neben dem Kamin. Sie erwiderte das Lächeln des Mädchens. Soviel Gesellschaft wie in den vergangenen Wochen hatte die gemalte Schöne gewiss lange nicht mehr gehabt.
Am Tage nach dem Streit um Bysshe hatten sie bis weit in den Vormittag hinein geschlafen und ihre Versöhnung leidenschaftlich besiegelt.
Danach hatten sie ernsthaft geredet und beschlossen, Ordnung in ihr Leben zu bringen. Aus den halbleeren, ungemütlichen Räumen war so mit etwas Anstrengung eine Wohnstätte geworden, gerade rechtzeitig, bevor das schlechte Wetter ihnen die Ausflüge durch die Stadt verleidet hatte.
Im vorderen Raum standen immer noch die Übungsgeräte, an denen sie jetzt wieder regelmäßig arbeiteten. Ein Teil der Wand und der Kamin waren hinter dunklem Holz verschwunden. Fortunagras Geheimkammer hatte es Jermyn angetan. Warum sollte man nicht von diesem Meister der Täuschung lernen? Drückte man auf eine verborgene Feder, glitt die Täfelung beiseite und gab eine kleine Kammer frei, in der sie alles verbargen, was besonders wertvoll oder verräterisch war. Nur die Goldsäcke blieben im Wachturm.
Es war Jermyn nicht leichtgefallen, Fremde in seinen Schlupfwinkel zu lassen, aber Ninian und Wag waren sich einig gewesen, dass sie weder Scheiben einsetzen noch Geheimtüren bauen konnten, und so hatte er widerwillig nachgegeben. Dem Tischler, dessen Werk die Täfelung war, hatte er jede Erinnerung an diesen Auftrag genommen.
Wärme spendete nur ein Kohlebecken, aber bei den Übungen wurde ihnen warm genug. Jermyns Pritsche stand noch im Zimmer. Meistens waren sie vollkommen glücklich damit, das herrschaftliche Bett zu teilen, doch hin und wieder zogen sie es vor, allein zu schlafen.
Ein seltsamer Gegenstand war dazugekommen, an den Ninian sich nur schwer gewöhnt hatte - der Schellenmann, eine krude Puppe aus Draht und Lumpen, einer Vogelscheuche nicht unähnlich. Unzählige Taschen verbargen sich in seiner Kleidung, über und über mit Glöckchen und Schellen besetzt. Jermyn hatte ihn herangeschleppt, um seine Finger für die Taschendieberei beweglich zu halten. Ninian dachte nicht besser als früher
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