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AZRAEL

AZRAEL

Titel: AZRAEL Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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dafür wäre er in diesem Moment dankbar gewesen, aber selbst das konnte er nicht mehr. Er dachte an das Gespräch mit Petri zurück: Es hatte begonnen.
    Ja, es hatte angefangen: später, als er befürchtet, und soviel früher, als er gehofft hatte. Es hatte begonnen, und keine Macht dieser Welt konnte es jetzt noch aufhalten.
    Mark war wieder in jenem furchtbaren Keller, der von Kerzenschein und dem Wehklagen verdammter Seelen erfüllt war, und er hörte auch wieder den Herzschlag und die lautlose Stimme, die seinen Namen flüsterte und ihn Taten beschuldigte, an die er sich nicht erinnern konnte, von denen er aber nun wußte, daß er sie begangen hatte. Das Gespenst war da. Es stand hinter ihm und war nun endgültig zum Monster aller Kinderträume geworden, denn so große Angst es ihm auch machte, so wußte er doch, daß es ihm nichts anhaben konnte, solange er sich nur nicht herumdrehte und es ansah.
    Aber wie lange würde er das können?
    Dieser Traum – der viel weniger Traum als eine fast bis zur Unkenntlichkeit verzerrte Erinnerung war (aber eben nur fast) – gehorchte seiner eigenen, simplen Logik, die die eines noch ziemlich naiven Zwölfjährigen war, nicht die eines Erwachsenen, und diese Logik war auf der einen Seite zwar dafür verantwortlich, daß alles, was er nicht sah, auf der anderen Seite auch ihn nicht sehen und ihm somit nicht zuleide tun konnte, aber sie verlieh dem gesichtslosen Schrecken auf der anderen Seite auch die Macht eines Gottes. Seine Unverwundbarkeit war nicht absolut. Das Ungeheuer würde ihn zwingen, ihn anzusehen, sobald seine Konzentration auch nur für einen winzigen Moment nachließ. Und er konnte bereits spüren, wie seine Kräfte schwanden. Dies hier war nicht die Welt, in die er gehörte. Es war nicht die Wirklichkeit – nicht die Wirklichkeit, die er kannte und verstand, aber es war auch weit mehr als eine Illusion. Er nannte es einen Traum, aber das war es nicht, sondern vielmehr ein Teil eines anderen, düsteren Universums, in dem Zeit und Raum ebensowenig Bestand hatten wie Realität und in dem er sich für ein Weile als Gast aufhalten konnte (oder als Gefangener?).
    Aber dieser Aufenthalt war nicht umsonst. Jede Sekunde, die er hier war, kostete Kraft, jeder Augenblick, den er länger in dieser vielleicht düstersten Ecke des Universums verweilte, stahl ihm etwas von seiner Energie, vielleicht seiner Lebenskraft.
    Er mußte diesen Keller verlassen. Aber wie?
    Die Vision hatte fast an der gleichen Stelle wieder eingesetzt, an der sie aufgehört hatte: Er stand wieder vor der rostigen Eisentür, durch die der hämmernde schwere Herzschlag drang, und er sah das Licht, das durch den allmählich breiter werdenden Spalt zwischen ihr und dem Rahmen drang, und die tanzenden Schatten dahinter, und wieder begriff er mit unerschütterlicher Sicherheit, daß etwas Furchtbares geschehen würde, wenn er durch diese Tür schritt.
    Mark glaubte sich zu erinnern, daß es einen anderen Ausgang aus diesem Keller gab – eine zweite Tür, vielleicht auch nur ein offener Durchzug auf der anderen Seite, nicht einmal ein Dutzend Schritte hinter ihm, und trotzdem unerreichbar, denn dorthin zu gehen hätte bedeutet, sich zu dem Phantomen am Boden umzudrehen und der anderen, weit schlimmeren Gestalt, die hinter ihm stand, und die ihn zweifellos vernichten würde, sobald er den Schutz des Nicht-Sehens und dadurch Nicht-gesehen-Werdens aufgab.
    Er saß in der Falle. Er konnte nicht hierbleiben, er konnte nicht weitergehen und er konnte nicht zurück.
    Vielleicht war es einfach an der Zeit, sich der Wahrheit zu stellen.
    Der Gedanke entstand so klar artikuliert in seinem Kopf, als hätte ihn tatsächlich jemand ausgesprochen, der unsichtbar bei ihm war, und im gleichen Augenblick fielen Furcht und Entsetzen wie ein zu lange getragenes Kleidungsstück von ihm ab.
    Es war an der Zeit.
    Mark hob den Arm, streckte die Hand aus und berührte die Tür mit gespreizten Fingern, ganz sacht, unendlich vorsichtig, wie er eine glühende Herdplatte berührt hätte oder das Netz einer schlafenden Spinne, das er irgendwie überwinden mußte, ohne das giftige Tier zu wecken.
    Es erwachte nicht. Die Tür war nicht heiß, aber auch nicht so kalt, wie ihr metallener Anblick hätte erwarten lassen, und nicht einmal annähernd so schwer, wie ihre wuchtige Formen suggerierten. Sie fühlte sich warm an, und auf eine schwer in Worte faßbare Art weich und beinahe lebendig und obwohl seine Berührung kaum mehr als ein

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