AZRAEL
kurz den Kopf und sah ihn mißtrauisch an, fuhr dann aber fort, die Scheibe vollzuhauchen und gleichzeitig nervös und unrhythmisch auf der Armlehne zu trommeln. »Es ist ja nicht so, daß ich Ihre Beobachtungsgabe anzweifle«, sagte er nach einer Weile. »Aber ich habe mich erkundigt, wissen Sie? Niemand kennt dieses Mädchen im Stift.« Er zögerte einen ganz kurzen Moment, ehe er hinzufügte: »Übrigens kann sich auch niemand daran erinnern, daß der junge Sillmann mit ihr zusammen weggegangen wäre.«
»Außer mir«, sagte Bremer.
»Außer Ihnen.« Sendig nickte und sah endlich wieder ganz in seine Richtung. »Diese Geschichte wird immer mysteriöser. Ich glaube beinahe, wir hatten bisher den falschen Sillmann im Visier.«
» Wir « , antwortete Bremer mit Nachdruck, »hatten bisher doch wohl überhaupt niemanden im Visier. Sie sagen mir ja nichts.«
Sendig grinste, als hätte er einen besonders guten Scherz zum besten gegeben, drehte den Kopf wieder nach rechts und hob plötzlich die Hand, als wenn er etwas sagen wollte. »Schauen Sie!« sagte er. »Er kommt!«
Bremer lehnte sich ein bißchen nach vorne, um an Sendig
vorbei einen Blick auf das Haus werfen zu können. Tatsächlich war die Haustür aufgegangen, und Mark Sillmann stürmte heraus. Er ging nicht etwa - er stürmte mit gewaltigen Schritten auf das Tor zu. Eine Winzigkeit mehr, und er wäre gerannt. Die beiden Polizisten beobachteten, wie er den Garten durchquerte und das Tor mit solcher Wucht hinter sich zuwarf, daß sie den Knall bis hierher hören konnten.
»Hoppla«, sagte Sendig. »Scheint, als hinge der Haussegen bei den Sillmanns ein bißchen schief.«
Bremer schwieg. Sie waren viel zu weit entfernt, um etwas von dem Gespräch mitbekommen zu können, das sich zwischen Mark und dem Mädchen entwickelte, aber die Körpersprache der beiden verriet genug. Bremer war nicht ganz sicher, ob er einen Streit beobachtete, zumindest aber eine sehr hitzige Diskussion. Das Mädchen setzte zwei-, dreimal dazu an wegzugehen, aber Mark hielt es jedesmal mit mehr oder weniger sanfter Gewalt zurück und redete heftig gestikulierend weiter. Die Diskussion dauerte nur wenige Minuten. Schließlich beruhigten sich Sillmann und das Mädchen und gingen nebeneinander und sehr schnell, aber ohne sich zu berühren, davon.
»Folgen wir ihnen?« fragte Bremer. Er streckte die Hand nach dem Zündschlüssel aus, und Sendig nickte, hielt aber zugleich seinen Arm fest.
»Ja, aber nicht gleich. Warten Sie einen Moment. Besser, sie merken es nicht.«
So erregt, wie die beiden waren, dachte Bremer, hätten sie wahrscheinlich nicht einmal gemerkt, wenn er ihnen mit einem Schützenpanzer hinterhergefahren wäre. Aber natürlich hatte Sendig recht - wie fast immer. Es war besser, vorsichtig zu sein.
»Ich würde meine rechte Hand dafür geben, zu wissen, was da passiert ist«, sagte Sendig leise und im Ton eines Selbstgespräches. »Er hat Ihnen nicht gesagt, was genau er dort wollte?«
»In der Klinik?« Bremer schüttelte den Kopf. »Er wollte seine Mutter besuchen.«
»Zum zweiten Mal an einem Tag?« Sendig machte eine wedelnde Handbewegung. »Sehr seltsam... und dann dieses Mädchen... Ich habe das Gefühl, daß wir ganz dicht davor stehen, etwas sehr Interessantes herauszufinden.«
Plötzlich war er sehr aufgeregt. »Also gut, Bre mer. Sie neh men den Audi und fahren den beiden nach. Aber vorsichtig! Sie dürfen Sie nicht bemerken. Und greifen Sie nicht ein, egal was passiert.«
Er griff in die Manteltasche und fingerte die Schlüssel des Dienstwagens heraus, der fünfzig Meter die Straße hinab hinter der nächsten Biegung geparkt war. »Also los. Ich bleibe hier und behalte das Haus im Auge. Ich habe das Gefühl, daß sich hier bald etwas tut. Sie haben meine Telefonnummer?«
»Nein«, antwortete Bremer, während Sendig nach dem Schlüssel griff und mit der linken Hand bereits die Tür des Mercedes öffnete. »Wozu? Der Audi hat Funk und - «
»Ja, und genau den sollen Sie nicht benutzen«, unterbrach ihn Sendig. »Fragen Sie nicht, warum, tun Sie es einfach. Hier ist meine Nummer.« Er drückte Bremer einen kleinen Zettel in die Hand, auf dem er bereits die Nummer des Autotelefons notiert hatte, und begann ungeschickt, über den Ganghebel hinweg auf den Fahrersitz des Mercedes zu rutschen, kaum daß Bremer aus dem Wagen gestiegen war. »Und jetzt beeilen Sie sich, bevor die beiden weg sind.«
Bremer verdrehte die Augen, aber er ersparte sich den Hinweis,
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