AZRAEL
»Es würde ihn umbringen. Wollen Sie das?«
Die Pistole in Sendigs Hand bewegte sich eine Winzigkeit höher und zielte nun genau zwischen die Augen des Arztes. »Wollen Sie lieber sterben?«
Der Arzt wurde immer nervöser. Aber er rührte sich nicht, sondern schürzte nun trotzig die Lippen. »Sie schießen nicht«, behauptete er nervös. »Was hätten Sie schon davon? Außerdem kann ich ihn gar nicht wecken, selbst wenn ich wollte.«
Sendig seufzte tief. Er drehte den Kopf und sah kurz aus dem Fenster, dann stand er auf, trat in gebeugter Haltung mit einem Schritt auf den Arzt zu - und schlug ihm mit dem Lauf der Pistole quer über das Gesicht. Bremer fuhr erschrocken hoch, während der Arzt mit einem überraschten Keuchen halb von seinem Schemel kippte und gegen die Liege mit dem bewußtlosen Mark gefallen wäre, hätte Sendig ihn nicht aufgehalten. Er stieß ihn grob auf den Schemel zurück und sagte in einem leisen, aber sehr entschlossenen Ton: »Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie es wenigstens versuchen würden, Herr Doktor.«
Die Sprechanlage knisterte. » Ist alles in Ordnung dahingen? «
»Ja«, antwortete Sendig. »Das heißt nicht ganz. Bitte halten Sie an der nächsten Kreuzung an und kommen Sie nach hinten. Und Ihr Kollege auch.« Er wartete, bis das winzige Licht der Sprechanlage erlosch, dann wandte er sich wieder an den Arzt. »Also?«
»Sie sind ja wahnsinnig!« stöhnte der Mann. Er hatte die Hand auf das Gesicht gepreßt und schien hörbar Mühe zu haben, überhaupt zu reden.
»Möglich«, antwortete Sendig. »Bedenken Sie diesen Um stand, ehe Sie irgend etwas tun.«
Bremer saß noch immer wie gelähmt da. Er verstand selbst nicht, warum er nichts unternahm. Es wäre die Gelegenheit gewesen, sich auf Sendig zu stürzen und ihn zu entwaffnen. Er stand unmittelbar vor ihm, drehte ihm aber den Rücken zu, und der Lauf semer Pistole war auf den Boden gerichtet. Selbst wenn er voraussetzte, daß Sendig verrückt war und auf nichts und niemanden mehr Rücksicht nehmen würde, standen seine Chancen nicht schlecht Aber statt es zu versuchen, saß er nur einfach weiter da und rührte sich nicht. Das war also das Ende seiner Karriere, dachte er. Er hätte auf seine innere Stimme hören und Sendig zum Teufel jagen sollen, als er heute morgen an seiner Tür geklopft hatte.
»Hören Sie zu!« stöhnte der Arzt. »Sie verstehen das nicht. Der Junge hat einen schweren Schock. Das ist nicht so harmlos, wie die meisten Laien glauben. Er kann daran sterben!«
»Wenn Sie es nicht tun, werden vielleicht noch sehr viel mehr Menschen sterben, Doktor«, sagte Sendig ernst. »Ich verlange nicht, daß Sie es verstehen, aber glauben Sie mir – es geht um mehr als sein Leben. Und wenn Sie es nicht glauben wollen, bleiben Sie einfach bei Ihrer Meinung, daß ich verrückt und völlig ausgerastet bin.«
Das Motorengeräusch veränderte sich. Bremer sah aus dem Fenster und bemerkte, daß der Wagen langsamer zu werden begann und an den Straßenrand rollte. Sie fuhren ohne Sirene, aber mit eingeschaltetem Bläulicht. Nach einigen Augenblicken hielt der Wagen an. Bremer konnte hören, wie die be i den Sanitäter ausstiegen und um das Fahrzeug herumeilten.
Sendig trat einen halben Schritt zurück und wartete, bis die beiden hinteren Türen geöffnet wurden. Erst dann drehte er sich langsam herum und hob seine Waffe. »Guten Abend, meine Herren«, sagte er fröhlich. »Es besteht kein Grund zur Panik. Betrachten Sie sich als gekidnappt. Wenn Sie vernün f tig sind und mich und meinen Begleiter nach Kuba fliegen, wird niemandem etwas geschehen.«
Niemand lachte. Die beiden Männer starrten Sendig nur vollkommen verdattert an. Offensichtlich erging es ihnen nicht anders als dem Arzt gerade: Sie verstanden gar nicht, was geschah. »Soll. . soll das ein Witz sein?« fragte einer der beiden.
»Keineswegs«, antwortete Sendig. Er lächelte noch immer, a ber e igentlich war es gar kein Lächel n. Es war eine Grimasse, über deren wahre Bedeutung Bremer lieber nicht nachdenken wollte. »Wenn ich Sie um Ihre Funkgeräte bitten dürfte?«
Bremers Blick fiel auf die Straße hinter den beiden Männern. Sie befanden sich in einer menschenleeren, schäbigen Gegend - kopfsteingepflasterte Straßen, die von tristen Industrie- und Lagerhallen gesäumt wurden und tagsüber vieleicht von Leben pulsierten, jetzt aber zum größten Teil unbeleuchtet und still dalagen.
Das Blaulicht rotierte noch immer und warf zuckende
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