AZRAEL
keinem Wort darauf ein, sondern drehte sich nach einigen Sekunden wieder herum und sah eine Weile zu, wie sich der Notarzt und die Sanitäter um Mark bemühten.
»Bin beruhigendes Gefühl, zu wissen, daß es jemanden gibt, der einem im Notfall hilft, nicht?« fragte er.
»Wie?« fragte Bremer.
Sendig deutete auf den Arzt. »Er ist gut. Schade um ihn.«
»Was soll das heißen?« fragte Bremer scharf.
Sendig wiederholte seine Geste, schüttelte ganz sacht den Kopf und sagte sehr leise und ohne Bremer dabei ins Gesicht zu sehen: »Sie wollten wissen, was los ist? Also gut. Was halten Sie davon: Ich habe ein bißchen herumtelefoniert, während Sie die beiden beschattet haben. Erinnern Sie sich an den Arzt von gestern? Den, der Löbachs Leiche untersucht und sich um Ihren Kollegen gekümmert hat?«
»Natürlich«, antwortete Bremer. »Warum?«
»Er ist verschwunden«, sagte Sendig.
»Verschwunden! Was soll das bedeuten?«
»Das, was es heißt«, antwortete Sendig. »Er ist nicht mehr da. Eine Stunde, nachdem er Ihren Kollegen ins Krankenhaus gebracht hat, wurde er zu einem neuen Einsatz gerufen. Seither hat ihn niemand mehr gesehen. Weder ihn noch die beiden Sanitäter, die dabei waren, oder den Krankenwagen. Interessant, nicht?«
»Aber... aber das ist doch Unsinn«, sagte Bremer. Seine Stimme klang beunruhigter, als er sich selbst eingestehen wollte. »Ein kompletter Krankenwagen verschwindet doch nicht so einfach.«
»Manchmal schon«, erwiderte Sendig mit einem leisen, humorlosen Lachen. »Vor allem, wenn er zu einem Einsatz gerufen wird, den es nicht gibt.« Er deutete erneut auf den Arzt und seine beiden Helfer, die sich noch immer heftig um Mark bemühten. »Was meinen Sie? Sollen wir Wetten annehmen, ob sie morgen früh noch da sind? Oder tun wir unsere Pflicht und gewähren ihnen Polizeischutz?«
33. Kapitel
D ie Treppe wurde von zwei langen Neonröhren beleuch tet, von denen aber nur eine funktionierte. Die andere flackerte unentwegt und verwandelte das untere Drittel des steil in die Tiefe führenden Schachtes m ein Spiegelbild desen, was in Petri vorging. Auch seine Erinnerungen flackerten. Die Wand brach immer schneller zusammen, und im gleichen Maße wuchs die Schwärze dahinter heran. Es fiel ihm immer schwerer, sich zu konzentrieren. Seine Erinnerungen waren nicht wirklich verschwunden, aber sie wären nicht mehr präsent. Sillmann hatte ihn hierher in den Keller des Laborgebäudes geführt, und er erinnerte sich an jeden Schritt, den sie getan hatten - aber er mußte sich dazu zwingen, mit einer Anstrengung, die ihm jedesmal ein bißchen schwerer fiel. Irgend etwas geschah mit ihm, und tief im Innern wußte er sogar, was es war. Aber der Gedanke war zu furchtbar, um ihn zu denken.
»Wo bleiben Sie, Doktor?« Sillmann hatte das Ende der Treppe bereits erreicht und vor einer schweren, mit zwei Schlössern gesicherten Tür haltgemacht. Mit der rechten Hand zog er einen Schlüssel hervor, mit dem er sie nacheinander öffnete. Die linke Hand blieb in seiner Manteltasche. Petri wußte, daß er irgend etwas darin hatte. Etwas Beunruhigendes, Gefährliches, aber er erinnerte sich nicht mehr, was es war. Als Petri nicht auf seine Frage antwortete, drehte er den Kopf und sah zu ihm hoch. In dem flackernden Licht dort unten vor der Tür schien auch sein Gesicht unentwegt zu vergehen und sich neu zu bilden. »Ist irgend etwas nicht in Ordnung?«
»Nein«, sagte Petri hastig. »Ich komme.« Er versuchte, schneller zu gehen, aber es blieb bei dem Versuch. Er konnte es nicht - nicht, weil seine Glieder ihm den Gehorsam verweigert hätten, sondern weil er sich für einen Moment nicht mehr daran erinnerte, wie man schneller ging. Seine Zeit war zerbrochen, er lebte nur noch im Jetzt, den drei endlosen Sekund en, die sein Bewußtsein als Gegenwart akzeptierte, und das sich beständig von einem wachsenden Strom aus Erinnerungen und Bildern fortbewegte, verblassenden Bildern mit verblassenden Farben, die er immer schwerer erkennen konnte. Aber inmitten dieses aus Millionen und Abermillionen Trümmerstücken bestehenden Chaos gab es ein Bild, das Bestand hatte. Er dachte an etwas, das in seiner Tasche war. Der Grund seines Hierseins. Und der Grund für das, was mit ihm geschah.
Sillmann hatte die Schlösser geöffnet und schob jetzt die Tür auf. Obwohl er ein sehr kräftiger Mann war, kostete es ihn sichtlich Mühe, sie zu bewegen. Die Scharniere quietschten, als wären sie seit Jahren nicht mehr bewegt
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