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AZRAEL

AZRAEL

Titel: AZRAEL Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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Charité?«
    Der Arzt nickte. »Ja.«
    »Dann kalkulieren Sie lieber zwanzig Minuten ein«, sagte Sendig. »Auf der Lindenallee ist eine Großbaustelle. Die ganze City ist dicht. Hat man Ihnen nichts davon gesagt?«
    »Kein Wort. Und ich habe auch nicht--«
    »Ich hatte vorhin Mühe, durchzukommen«, fiel ihm Sendig ins Wort. »Und das war vor einer Stunde. Jetzt sind die ganzen Verrückten aus den Diskotheken und Kinos auf dem Weg nach Hause.« Er überlegte einen Moment, sah wieder aus dem Fenster und deutete dann auf die Sprechtaste, die der Arzt gerade betätigt hatte. »Lassen Sie ihn an der nächsten Ampel rechts abbiegen. Wir fahren durch das Industriegebiet. Das ist weiter, geht im Moment aber schneller.«
    Das klang nicht besonders überzeugend, und der Arzt zögerte auch tatsächlich einige Sekunden, drückte aber schließlich doch auf die Sprechtaste und gab Sendigs Anweisung an den Fahrer weiter. Bremer sah den Kommissar fragend an. Er hatte den ganzen Tag über den Polizeifunk abgehört und nichts von irgendeiner Baustelle erfahren, geschweige denn einem Stau. Und vor einer Stunde war Sendig ganz gewiß nicht in der Nähe der City gewesen. Was hatte er vor?
    Sendig quittierte seine fragend hochgezogenen Augenbrauen mit einem kurzen, aber beinahe beschwörenden Blick. Einem Blick, der Bremer mehr beunruhigte als alles andere, was bisher geschehen war. Hätte er bis zu diesem Moment noch Zweifel daran gehabt, daß Sendig unter der Maske aufgesetzter Ruhe vor Angst fast wahnsinnig wurde, so hätte dieser Blick sie endgültig beseitigt Er sah einem Mann in die Augen, der um mehr fürchtete als sein Leben.
    »Glauben Sie, daß ich mit dem Jungen sprechen kann?« fragte Sendig.
    »Sicher«, antwortete der Arzt. »Morgen früh oder in zwei Tagen oder einer Woche.«
    »Das meine ich nicht«, sagte Sendig. Seine rechte Hand glitt in einer wie zufällig wirkenden Bewegung unter die Jacke und blieb dort. »Ich meine: jetzt, hier.«
    »Machen Sie sich nicht lächerlich«, sagte der Arzt. Er warf Sendig einen feindseligen Blick zu - übrigens nicht zum ersten Mal, seit sie losgefahren waren. Sendig hatte ihn fast ge waltsam dazu zwingen müssen, nicht nur Bremer, sondern auch ihn im Krankenwagen mitzunehmen, und der Arzt machte keinen Hehl daraus, daß er in mindestens einem Punkt mit Bremer übereinstimmte: Er könnte Sendig nicht ausstehen. »Sie sehen doch, in welchem Zustand er ist. Selbst wenn ich ihn aufwecken könnte, würde ich es nicht tun. Aber ich kann es nicht.«
    »Das ist bedauerlich«, sagte Sendig. »Aber ich fürchte, ich muß darauf bestehen.« Er zog die Hand unter der Jacke hervor, und sie hielt genau das, was Bremer erwartete hatte: eine Pistole, deren Mündung er mit einer betont langsamen Bewegung auf das Gesicht des Arztes richtete.
    Bremers Gedanken stockten für den Bruchteil einer Sekunde und begannen sich dann zu überschlagen. Blitzartig spielte er alle Möglichkeiten durch, die er hatte. Er war Sendig nahe genug, um ihn zu packen und ihm die Waffe zu entreißen, ehe er abdrücken konnte. Zugleich aber sah er auch eine Entschlossenheit auf Sendigs Gesicht, die ihn warnte, daß Sendig sich nicht so einfach würde überwältigen lassen. Ein Handgemenge in dem engen Wagen konnte fatale Folgen haben - tödliche, sollte sich ein Schuß lösen. Und da war noch etwas: Die Furcht in Sendigs Augen hatte die Erinnerung wieder geweckt, die er im Verlauf der letzten halben Stunde so mühsam unterdrückt hatte. Die Erinnerung an das Ding auf der Treppe, den Schatten im Auto und das, was er auf dem Foto gesehen hatte.
    »Sendig.,.«begann er zögernd.
    »Denken Sie nicht einmal daran«, unterbrach ihn Sendig. »Ich habe nichts mehr zu verlieren. Und Sie übrigens auch nicht.« Sowohl sein Blick als auch der Lauf seiner Waffe blieben starr auf den Arzt gerichtet, der dem kurzen Gespräch vollkommen fassungslos gefolgt war. Er sah nicht einmal erschrocken aus, sondern einfach nur verblüfft.
    »Sind... sind Sie verrückt geworden?« stieß er mühsam hervor. Ohne Sendigs Reaktion abzuwarten, wandte er sich an Bremer. »Tun Sie etwas, Mann! Sie sind doch Polizist!«
    »Seien Sie froh, daß er vernünftig genug ist, nichts zu tun«, sagte Sendig. »Und jetzt wecken Sie den Jungen auf! Ich muß darauf bestehen, Herr Doktor.«
    »Das kann ich nicht«, antwortete der Arzt. Allmählich bekam er nun doch Angst, aber auf seinem Gesicht breitete sich auch ein Ausdruck von Trotz aus, den Bremer gut genug kannte.

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