AZRAEL
Sendig recht hatte (verdammt noch mal, das konnte er nicht! Was er erzählte, war schlechte Science-fiction, mehr nicht), dann war Mark ungefähr so harmlos wie eine Bombe mit tickendem Zeitzünder, dessen Zifferblatt er nicht lesen konnte, und trotzdem war alles, was er für ihn empfand, ein Gefühl tiefen Mitleids, und wenn er überhaupt Zorn verspürte, dann nur auf die, die ihm das alles angetan hatten: Marks Vater, Löbach und die Männer in den blauen Wagen.
Dafür machte ihm etwas anderes zu schaffen, und das war vielleicht schlimmer. Er begann den Bezug zur Realität zu verlieren. Er wußte nicht mehr, was wirklich war und was Vision. Die Schatten, die ihn verfolgten, die Männer, gegen die er gekämpft hatte - was davon hatte er wirklich erlebt und was nicht? Für einen Moment fragte er sich, ob der ganze zurückliegende Tag vielleicht nicht mehr als ein Alptraum gewesen sei, ein Traum, aus dem er einfach nicht aufwachen konnte, ganz egal, wie sehr er es auch versuchte. Irgend etwas kratzte an der Außenseite des Wagens. Das Geräusch war sehr leise, kaum wirklich hörbar, aber es jagte Bremer einen eisigen Schauer über den Rücken. Er wußte, was es war.
Sendig sog wieder an seiner Zigarette, hustete und reagierte nun doch auf seine Worte. »Ja. Genauso unmöglich wie das, was Mogrod zugestoßen ist. Oder Ihrem Kollegen Hansen. Oder Löbach. Artner... Soll ich weitermachen? Sie sind alle tot, Bremer. Alle, die damals dabei waren.«
»Alle außer Ihnen«, sagte Bremer. »Jetzt verstehe ich endlich. Das ist der Grund, weshalb Sie plötzlich Ihr Gewissen wiederentdeckt haben, nicht? Ihr Name steht auch auf der Liste. Und mittlerweile wahrscheinlich ganz oben!«
»Und wenn?« fragte Sendig. »Ist es ein Verbrechen, überleben zu wollen?«
»Manchmal ja«, antwortete Bremer. »Es kommt auf die Umstände an. Und darauf, was es kostet. Und ich habe Ihnen tatsächlich geglaubt! Sie haben mir etwas von Ihrem Gewissen erzählt und davon, daß Sie sich nicht noch einmal kaufen lassen wollen. Aber das war alles gelogen. Sie hatten einfach nur Angst.«
»Ja«, gestand Sendig. »Aber es war trotzdem nicht gelogen. Es war einer von zwei Gründen. Was ich Ihnen heute morgen erzählt habe, war die Wahrheit, glauben Sie es, oder lassen Sie es bleiben.«
»Sie sind ein verdammter Feigling«, murmelte Bremer. »Was mit dem Jungen passiert oder Hansen oder mir, ist Ihnen doch völlig egal!«
»Haben Sie den Ausdruck auf Mogrods Gesicht gesehen?« fragte Sendig leise. Bremer sah ihn fragend an.
» Ich habe ihn gesehen«, fuhr Sendig fort. »Und übrigens auch den auf dem Artners - und auf Ihrem eigenen, so ganz nebenbei. Begreifen Sie es immer noch nicht, Sie Trottel? Irgend jemand ist dabei, die große Schlußrechnung zu machen, und was all diesen anderen armen Hunden passiert ist, wird auch mir passieren. Und wahrscheinlich auch Ihnen. Und glauben Sie mir, was immer es ist, es ist schlimmer als der Tod.« Er machte eine zornige Handbewegung. »Möglicherweise passiert es gar nicht wirklich. Vielleicht bilden wir uns das tatsächlich alles nur ein. Aber wissen Sie was, Bremer? Ich schätze, es ist egal. Das Ergebnis bleibt sich gleich, wenigstens für uns.«
Plötzlich schrie er, »Ich weiß nicht, was dieser Junge da ist, aber es ist mir auch egal! Ich werde jedenfalls nicht tatenlos zusehen, wie mir dasselbe passiert wie den anderen!«
»Und was wollen Sie tun?« fragte Bremer leise. »Auf Gespenster schießen?«
Bevor Sendig antworten konnte, hörten sie ein leises Stöhnen. Bremer sprang so heftig auf, daß er fast gegen Sendig geprallt wäre, und beugte sich über die Trage auf der anderen Seite. Mark bewegte sich. Sein Gesicht war noch immer so unnatürlich bleich wie zuvor . Seine Hände öffneten und schlo ssen sich unentwegt, und seine Fingernägel verursachten ein unangenehmes kratzendes Geräusch auf dem Kunstlederbezug der Trage. Er zitterte am ganzen Leib, und Bremer fiel auf, daß sein Schweiß plötzlich durchdringend und sauer roch. Vielleicht stand er am Lager eines Sterbenden. Aber seine Lider waren jetzt nicht mehr ganz geschlossen. Seine Augäpfel blickten trüb.
»Mark?« fragte Sendig. »Sind Sie wach?«
Mark stöhnte wieder. Seine Fingernägel hörten auf, diese schrecklichen kratzenden Geräusche zu verursachen, und seine Hände schl o ssen sich mit einem Ruck zu Fäusten. Sendig legte ihm die Hand auf die Stirn und zog sie so hastig wieder zurück, als hätte er sich verbrannt.
»Können
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