AZRAEL
als er allmählich einsah, daß er sich getäuscht hatte, geriet er endgültig in Panik. Bremer war angespannt. Sendig hatte immer noch seine Waffe.
»Okay, ich glaube Ihnen«, sagte Mark verständnislos. »Aber ich verstehe wirklich nicht -«
»Sie erinnern sich nicht«, sagte Bremer. Sendig starrte ihn fast haßerfüllt an, doch diesmal ließ er sich davon nicht mehr beeindrucken. »Sie wissen gar nicht, wovon wir reden, habe ich recht?« Es kostete ihn große Mühe, weiterzusprechen. »Wissen Sie, was mit Löbach passiert ist?«
Mark nickte. »Er ist tot. Er hat sich... umgebracht.«
»Und die anderen?«
»Welche anderen?« fragte Mark. Er versuchte sich aufzusetzen und hätte es vielleicht sogar geschafft, aber Bremer drückte ihn mit sanfter Gewalt zurück.
»Überanstrengen Sie sich nicht«, warnte er. »Sie haben da eine ziemlich üble Verletzung.«
Mark blickte an seinem Arm hinab, und allein die Art, wie er es tat, sagte Bremer, daß er die Wunde bisher weder bemerkt hatte, noch sich erklären konnte, woher sie stammte. Schließlich sah er wieder zu Bremer hoch.
»Welche anderen?« wiederholte er. »Wovon reden Sie?«
Auch Bremer fühlte sich plötzlich hilflos. Es erging ihm im Grunde ja nicht viel anders als Sendig - er versuchte Antworten zu bekommen, ohne die Fragen zu kennen.
Wenigstens hatte er jetzt keine Angst mehr. Irgendwann im Lauf des Gespräches war sie einfach erloschen. Die Vorstellung eines mörderischen Schattens, der den Wagen umschlich
und nach einem Eingang suchte, schien ihm mit einem Male wieder ebenso irreal wie die kratzenden Laute, die er zu hören geglaubt hatte. Es war -
»Von Ihren Träumen«, sagte er.
Mark erschrak. »Woher wissen Sie...?« fragte er impulsiv.
Auch Sendig sah ihn überrascht an, aber Bremer hatte sich gut in der Gewalt. Er war auch gar nicht sehr überrascht. Nicht zum ersten Mal an diesem Abend hatte er das Gefühl, daß es ihm in dieser ganzen Geschichte so erging wie während dieses Gespräches jetzt: daß er die Antworten eigentlich kannte und ihm nur die passenden Fragen fehlten. Da war noch etwas, was er wußte: etwas ungeheuer Wichtiges. Aber dieser Gedanke entglitt ihm, als er danach zu greifen versuchte.
»Seit wann haben Sie sie?« fragte er. »Seit der vergangenen Nacht?«
»Ja«, antwortete Mark überrascht. »Können Sie Gedanken lesen?«
»Manchmal«, sagte Bremer lächelnd. »Das ist gar nicht so schwer, wie Sie vielleicht glauben. Aber Spaß beiseite, seit wann haben Sie diese Träume? Seit der vergangenen Nacht. So ungefähr gegen eins?« Seit dem Moment, in dem Löbach sich vom Balkon seiner Wohnung gestürzt hatte.
Mark nickte verblüfft, und Bremer wußte, daß Sendigs Gesicht jetzt noch ein bißchen mehr Farbe verloren hatte, auch ohne daß er ihn dazu ansehen mußte.
»Warum erzählen Sie uns nicht davon?« fragte er.
»Das... möchte ich nicht«, antwortete Mark stockend. »Ich kann es nicht.«
Aber schließlich konnte er es doch.
39. Kapitel
B erger hatte für einige Minuten das Bewußtsein verloren, und wahrscheinlich würde er sterben, wenn er nicht zu einem Arzt gebracht wurde. Die Kugel hatte sein Herz verfehlt, aber seine linke Schulter zerschmettert, und unter seinem Rücken bildete sich eine gewaltige Blutlache, deren süßlicher Geruch sich mit dem Staub in der Luft vermengte und den Keller endgültig wieder zu einem Grab werden ließ. Der Kreis begann sich zu schließen, dachte Sillmann. Dieser Raum war eine Gruft gewesen, als er ihn das letzte Mal betreten hatte. Der Tod hatte hinter ihnen die Tür geschlossen, und er war nicht gegangen. Er hatte nur hier gewartet.
»Sillmann, helfen Sie mir«, stöhnte Berger. »Ich sterbe!«
»Ich weiß«, sagte Sillmann leise. Er musterte die halb auf der Seite liegende Gestalt kühl und versuchte, irgendein Gefühl in sich zu finden. Er hatte geglaubt, Berger zu hassen, ihn und die namen- und gesichtslosen Männer, die hinter ihm standen, aber das stimmte nicht. In ihm war gar nichts. Er empfand weder Haß noch Groll, aber auch keine Zufriedenheit. Nicht einmal Erleichterung, daß es vorbei war. Vielleicht würde Berger sterben, vielleicht auch nicht. Es spielte keine Rolle.
»Ich flehe Sie an, Sillmann! Wollen Sie mich verbluten lassen?«
Er sagte nichts mehr darauf. Berger war schon tot, er wußte es nur noch nicht. Er war bereits tot gewesen, als er sich entschlossen hatte, hierherzukommen - und vielleicht schon eher, schon viel eher. Möglicherweise harte er
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