AZRAEL
deinen Anwalt anrufen.«
Sein Vater blieb auf eine Art ruhig, die Mark allmählich zur Weißglut reizte - allerdings auf eine Art, die irgendwie nicht wirklich an die Oberfläche drang. Er spürte das Feuer, aber die Eruption blieb aus, obwohl er sie sich gewünscht hätte.
»Ich hoffe, daß es nur mein Anwalt ist und nicht bald unser Anwalt«, sagte sein Vater ruhig. »Ich kenne diesen Polizisten, diesen Sendig. Er ist ein sehr unangenehmer Mensch.«
»Und was habe ich mit ihm zu tun?«
»Genausoviel wie ich, nämlich nichts«, behauptete sein Vater. »Aber das wird ihn nicht daran hindern, uns weiter zu belästigen.«
»Warum sollte er das tun? Wenn Löbach -«
»Löbach!« Sein Vater unterbrach ihn, scharf und mit einer wegwerfenden Geste. »Löbach hat mit der ganzen Geschichte nichts zu tun. Sendig verträgt keine Niederlagen, und ich habe ihm vor ein paar Jahren einmal eine bereitet. Ich schätze, er glaubt, jetzt wäre der Moment gekommen, sich zu revanchieren.«
»Was hast du mit der Polizei zu schaffen?« fragte Mark mißtrauisch.
»Gar nichts«, behauptete sein Vater. »Vor ein paar Jahren hat mich jemand denunziert - ein gefeuerter Angestellter, ein Konkurrent, was weiß ich. Angeblich soll in der Firma irgendeine Drogengeschichte gelaufen sein.«
»Drogen?« Mark riß erstaunt die Augen auf. Er konnte sich viel vorstellen, aber sein Vater und Drogen? Das war lächerlich. Sein Vater verachtete Menschen, die Drogen nahmen. Die meisten, die keine nahmen, übrigens auch. »Aber daran ist doch nichts Wahres, oder?«
»Natürlich nicht«, sagte sein Vater. »Aber Sendig hatte sich in die Idee verrannt. Ich konnte meine Unschuld beweisen, aber er ließ nicht locker, und so habe ich mich schließlich über i hn beschwert. Die Ermittlungen wurden eingestellt, und Sendig bekam einen Rüffel, den er mir bis heute wohl nicht verziehen hat. Es sollte mich nicht wundern, wenn er jetzt irgendwie versucht, die ganze Geschichte von damals wieder aufzuwärmen. Sei also vorsichtig, wenn er dich anspricht. Am besten redest du gar nicht mit ihm.« Er lächelte unecht und fügte in ebenso unecht aufmunterndem Ton hinzu: »Und jetzt ab ins Bett.«
»Wie kommt es nur, daß ich das Gefühl habe, du willst mich loswerden?« fragte Mark.
»Vielleicht, weil es so ist«, erwiderte sein Vater. »Ich habe in der Tat eine Menge zu tun - nicht nur wegen dieses Dummkopfes Sendig. Dein Besuch kam... etwas überraschend. Aber bis heute abend habe ich mich freigeschwommen, keine Angst.«
Soviel zu Marks Ankündigung, nicht mit ihm essen zu wollen. Aber er war viel zu müde, um zu widersprechen - in diesem Punkt hatte er wohl eindeutig recht. So stand Mark auf und ging zur Tür, blieb aber noch einmal stehen und wandte sich um. Sein Vater hatte bereits die Hand nach dem Telefonhörer ausgestreckt, sah aber weiter aufmerksam in seine Richtung.
»Ist noch irgend etwas nicht in Ordnung?«
Irgend etwas? Mark hätte am liebsten aufgelacht. Hatte sein Vater ihn gerade wirklich gefragt, ob irgend etwas nicht in Ordnung war? Und doch… irgend etwas in dessen Blick hielt Mark davon ab, ihm laut ins Gesicht zu lachen. Die Frage, die sein Vater stellte, war vielleicht rein rhetorisch, aber nichtsdestotrotz ehrlich gemeint gewesen. Er war sich keiner Schuld bewußt - und welcher auch? Sollte er seinen Vater vielleicht für das verantwortlich machen, was er gestern und heute getan hatte? Oder gar für seine Alpträume? Das war lächerlich.
»Nein«, sagte er nur. »Ich bin nur. . . froh, wieder zu Hause zu sein. Trotz allem. »... müde.«
Er schloß die Tür und ging zur Treppe. Sein Zimmer lag im Erdgeschoß, gleich unten neben der Haustür, aber er wurde immer langsamer, während er die Treppe hinunterging - obwohl er tatsächlich so müde war, wie er behauptet hatte. Trotz d em. Irgendwie spürte er, daß dies ein wichtiger Moment war, den er nicht mit Schlafen vergeuden sollte, wenigstens nicht gleich. Er war nach Hause gekommen, nicht für eine Stippvisite zwischendurch, nicht als Besucher für zwei, drei Tage oder eine Woche, sondern endgültig. Eine Heimkehr war immer etwas Besonderes, selbst wenn sie unter so unglückseligen Vorzeichen stattfand wie diese. Und eine Heimkehr war es. Es spielte keine Rolle, ob er für immer gekommen war oder vielleicht auch diesmal nur für wenige Tage. Was zählte, war allein, daß er zu Hause war, an dem Ort, an den er gehörte.
Es war ein sonderbar wohltuender Gedanke - und zugleich einer, der
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